Es scheint irgendein Fest zu geben, denn die Nacht ist insgesamt sehr laut. Bis in den Morgengrauen laufen die Spanier laut lachend durch die Straßen. Gegen 4:00 Uhr endet mein bis dahin guter Schlaf, danach drehe mich wieder einmal von der linken auf die rechte Seite und so fort.
Um 6:25 Uhr breche ich schließlich auf und gehe durch die noch dunklen Gassen von Logroño. Überall stehen und sitzen Spanier, die wohl die Nacht zum Tag gemacht haben. Die Spuren sind nicht zu übersehen. Vielerorts stinkt es erbärmlich nach Urin und manche Stelle auf dem Asphalt kündigt von der Unverträglichkeit des Abendessens einzelner Partyfreunde. Auf einer hart anmutenden Steinbank, gleich neben einer Kirche, frönt ein Pärchen unüberhörbar den körperlichen Freuden!
Die Dunkelheit macht es schwierig, sämtliche gelben Pfeile zu entdecken. Ich verlaufe mich einige Mal, und muss dann stets ein Stück zurück gehen und die übersehene Wegmarkierung suchen. Irgendwann erreiche ich die Stadtgrenze, ab hier geht es über hübsch angelegte Wege nach Navarrete. Obgleich ich mich von Anfang an quäle, macht es doch Spaß, durch die frische Morgenluft zu wandern. Bald jedoch setzt sich die Sonne durch und brennt unbarmherzig auf Schultern und Nacken.
Kurz vor Navarrete passiere ich das Antiguo Hospital de Peregrinos San Juan de Acre. Von diesem ehemaligen Johanniter-Hospital aus dem Jahr 1185 stehen jedoch nur noch die Überreste einzelner Mauern.
In Navarrete setze ich mich in eine Bar. Ich fühle mich elend und spüre nun massiv die Belastung der letzten Tage. Lethargisch sitze ich vor meinem café con leche und beschließe endlich, für die restliche heutige Etappe den Bus zu nehmen. Ich benötige dringendst eine Auszeit. Zwar waren es bis hierher nur 14 km, aber ich habe intensiv das Gefühl, dass, wenn ich weiter gehen würde, morgen der Camino für mich zu Ende wäre. Immerhin ist es der achte wirklich anstrengende Wandertag in Folge und da ist eine kleine Pause wohl erlaubt.
Nach einiger Zeit kommen auch Peter und Stefan in die Bar. Was für eine Freude. Peter kam mit dem Bus hierher, und gemeinsam wollen sie nun weiter nach Nájera gehen. Sie sehen mir an, dass es mir nicht besonders gut geht, und bestärken mich in meinem Entschluß, mit dem Bus zu fahren. Irgendwann machen sich die beiden auf den Weg, ich bleibe noch recht lange, ziemlich erschöpft einfach sitzen. Schließlich begebe ich mich zur Haltestelle und warte dort 40 Minuten in der brütenden Hitze auf den nächsten Bus.
In Nájera angekommen, latsche ich zunächst durch die Altstadt. Überall sehe ich die Töpferwaren, für die diese Stadt bekannt ist. Die Herberge kann ich jedoch nicht finden. Stattdessen treffe ich auf einer Wiese neben einem Bach Marlene. Sie liegt mal wieder im Gras und döst vor sich hin, das zweite Mal, dass ich sie so antreffe. Wir unterhalten uns kurz und ich erfahre, dass sie noch einen Ort weiter gehen wird - irgendwann später. Sie schläft wieder ein und ich suche weiter nach der Herberge. Etwas abseits der Altstadt entdecke ich sie schließlich und bin erleichtert, sie endlich gefunden zu haben. Sie verfügt nur über 10 Betten, und ich hatte mittags doch versprochen, für Peter und Stefan ebenfalls zu buchen. Da ich aufgrund meiner Busfahrt einer der erste Pilger am Ort bin, sollte das kein Problem sein.
Leider öffnet sie erst in etwa 2 Stunden. Es ist extrem heiß und keines klaren Gedankens fähig, setze ich mich neben einen Brunnen und trinke - nein, saufe - das kühle Nass! Den Bus zu nehmen, war ganz eindeutig die richtige Entscheidung, die Hitze ist heute mörderisch! Nach einiger Zeit und mehreren erfrischenden Kopfduschen im sprudelnden Brunnenwasser setzt mein Gehirn allmählich wieder ein. Irgend etwas kommt mir hier merkwürdig vor. Ich weiß jedoch nicht was, also saufe ich zunächst einfach mal weiter. Schließlich dämmert es mir. Dies kann keinesfalls die kleine Herberge mit 10 Betten sein. Es handelt sich eher um die große städtische Herberge, die hat nur einen Raum mit 80 Betten und ist nach Auskunft meines Führers laut, schmutzig und bäääääh. In der Tat wirkt sie sehr abweisend. Auf einem Schild steht Wir bevorzugen Fußkranke, darunter die Entfernungsangabe zum nächsten Ort.
Eilig raffe ich alles zusammen - Schuhe und Strümpfe hatte ich ausgezogen - und eile zur privaten Herberge. Da es dort tatsächlich nur 10 Betten gibt, befürchte ich, nun zu spät zu sein. Sie zu finden ist schwierig, niemand den ich frage scheint sie zu kennen. Schließlich erfahre ich, dass man sich im Restaurant La Ruderia anmelden muss. Insgesamt benötige ich über eine Stunde, um das Restaurant zu finden und bin jetzt sicher, dass alle Betten bereits belegt sind.
Doch ich habe Glück! Erstaunlicherweise bin ich der erste Gast, und da es eine private Herberge ist, kann ich auch problemlos für Stefan und Peter ein Bett reservieren. Die Herberge ist allerdings ein paar Straßen entfernt, und der Restaurantbesitzer und Herbergsvater möchte nicht für nur einen Pilger die Strecke gehen. Also warte ich in kühler Halbdunkelheit bei einem großen Glas Cerveza. Schon bald kommt ein junges Pärchen aus der Schweiz und zu dritt werden wir in die Räume geführt. Es gibt ein 4-Bett- und ein 6-Bett-Zimmer, durch einen Durchgang miteinander verbunden und mit einer gemeinsamen Dusche, einfach, aber soweit in Ordnung.
Nachdem ich meine Siebensachen geordnet sowie Kamera und Handy an die einzige Steckdose gehangen habe, falle ich zunächst einmal in ein längeres Hitzekoma und liege dösend eine Weile auf meiner Matratze. Schließlich raffe ich mich dann doch auf und gehe in die nette Stadt. Heute wird ein Stadtfest gefeiert und es ist vor allem unglaublich laut. Ich setze mich auf eine Wiese vor eine Bar, um mich herum spielen Kinder, deren Eltern ebenfalls in den umliegenden Bars Zuflucht vor der alles erdrückenden Hitze suchen.
Auf einmal fühle ich mich richtig einsam und in der Fremde verlassen. Zum Glück kommen in diesem Moment Peter und Stefan völlig abgekämpft vorbei. Sie freuen sich über die Reservierung und erzählen mir von dem Tal der Steinmännchen hinter Navarrete.
Auf dieses Wegstück hatte ich mich eigentlich sehr gefreut, hatte aber völlig vergessen, dass es auf der heutigen Etappe liegt. In diesem Tal errichtet jeder Pilger eine kleine Steinpyramide und den Erzählungen von Stefan und Peter zufolge muß die Durchwanderung dieses Tales ein sehr schönes und intensives Erlebnis sein. Ich bedaure, dass ich das verpasst habe, hätte das aber heute keinesfalls geschafft! Vielleicht ist das ja ein Grund, um irgendwann den Weg - wenigstens teilweise - zu wiederholen.
Peter und Stefan gehen zunächst in die Herberge, ich hingegen begebe mich auf den zentralen Platz und setze mich in eines der Cafés. Bei einem weiteren Glas Bier beobachte ich Bühnenarbeiter, wie sie eine für diesen Platz viel zu große Bühne zerlegen. Plakate verraten mir, dass es sich nicht um ein Stadtfest, sondern um Esmaralda on Tour handelt, die gestern Abend hier einen zweistündigen Auftritt hatte. Es ist erstaunlich, welcher Aufwand für diese Veranstaltung getrieben wurde.
Etwa ein Dutzend Männer schleppen schwere Bühnenteile, teils mit Hilfe zweier mobiler Kräne in einen riesigen LKW, der aufgrund seiner Größe nur teilweise auf den Platz passt. Dazu kommen Scheinwerfer, Bildschirme, Diskokugeln und Lautsprecher wie sie in großen Stadien benötigt werden. Für nur eine Veranstaltung ist der Aufwand entschieden zu groß, aber vielleicht gab es ja gestern noch andere Aufführungen. Der Abbau geht unter lautstarken Diskussionen vonstatten, ständig gehen irgendwo Böller hoch und untermalen die Geräuschkulisse wirkungsvoll.
Links des Platzes steht ein Hotel, aus dem in lockeren Abständen Künstler ihre Kleidung ebenfalls in den großen LKW schaffen. Dabei benutzen sie Kleidersäcke, wie auch ich sie zum Teil für meine Kostüme für die Freilichtbühne in Zons benutze. Dieses Jahr wird dort Der Froschkönig aufgeführt, und ich spiele das erste Mal seit 14 Jahren nicht mit. Mein Camino fällt in die Hauptprobenzeit, daher kann ich in dieser Saison nicht teilnehmen. Meine Gedanken wandern nach Zons, und wieder komme ich mir plötzlich völlig einsam vor. Um mich abzulenken, richte ich nun meine Gedanken auf die Tourenplanung der nächsten Tage.
Da ich mich heute ein wenig erholen konnte, beschließe ich nun, von den, in meinem Reiseführer vorgeschlagenen Etappen abzuweichen und morgen eine etwas längere Strecke zu gehen. Ich treffe ständig auf die gleichen Leute. Diese sind zwar zur Zeit wirklich sehr nett, aber ich werde sie vermutlich in Burgos wieder treffen. Ich möchte einfach weg vom Mainstream und meinen Camino etwas individueller gestalten. Gedanklich spiele ich verschiedene Etappen durch und entscheide mich schließlich für Redecilla del Camino als morgiges Ziel. Da heißt es aber sehr früh aufstehen! Bislang habe ich den Camino eigentlich nur meinem Führer folgend abgelatscht, ab sofort werde ich meine Etappen selber festlegen, meinen Camino aktiver gestalten und auch mal in kleineren Orten und Herbergen übernachten!
Mir fällt ein, dass ich unbedingt Lebensmittel einkaufen muss. Ich habe nur noch die Äpfel - die müssen dringend gegessen werden - und meine Nussriegel. Während mir dieser Gedanke durch den Kopf schießt, bemerke ich plötzlich, dass die Bühne nicht ab-, sondern umgebaut wird. Seit nunmehr drei Stunden - drei Stunden, solange sitze ich bereits hier??? - schleppen die Rowdies neue Bühnenteile, ein riesiges Mischpult, Lampen und Lautsprecher hin und her. Die Herberge liegt nur um die Ecke, das dürfte eine laute Nacht werden - und ich will doch so sehr früh aufbrechen...
Ich gehe ein wenig spazieren und treffe Stefan. Er will um 19:30 Uhr gemeinsam mit Peter und Gary aus Kanada zu Abend essen, ob ich mitkäme? Klar! Kurz darauf treffe ich das italienische Pärchen, Laura und Piedro, die beiden kommen spontan auch mit. Ich trödele ein wenig über den Kirmesplatz. Dieser besteht fast nur aus bunten Hüpfburgen und ist übersät mit Kindern.
Um 18:45 Uhr treffe ich Stefan, Gary und Peter, der ein Bier ausgibt. Im Anschluss an diese kühle Erfrischung begeben wir uns in das Restaurant. Es ist voll, aber vor dem Eingang, so halb auf der Straße, stehen zwei schäbige Tische. Diese rücken wir zusammen und stellen sechs Stühle dazu, vier für uns und zwei für Laura und Piedro, die wohl gleich eintreffen werden.
Plötzlich kommen drei etwas ältere, unsympathisch wirkende deutsche Pilger und wollen wissen, ob hier noch frei wäre.
"Hmmm, eigentlich nicht", meint Peter.
"Egal, jetzt ist hier besetzt", erwidert der älteste Mann - offensichtlich der Sprecher der drei - und sie setzen sich ungefragt und wie selbstverständlich hin.
Kurz darauf erscheinen Laura und Piedro. Es gelingt Piedro noch einen weiteren Tisch nebst zwei Stühlen zu organisieren und Laura sitzt jetzt gleich neben der deutschen Frau. Der dritte, ein kleinerer, schlanker Mann sagt praktisch keinen Ton und nickt stets zu den Bemerkungen ihres Gruppensprechers.
Dieses - leider wieder einmal deutsche Trio - ist unmöglich! Beim Anstoßen spritzt ein Tropfen Rotwein auf die Bluse der deutschen Frau, die daraufhin völlig entrüstet und schimpfend für etwa 30 Minuten in der Toilette des Restaurants verschwindet. Später wünscht Laura der Frau charmant "`Guten Appetit", diese jedoch ignoriert Laura völlig, redet kein Wort mehr mit ihr und wendet sich ausschließlich ihrem Mann zu.
Im Übrigen sprechen sie natürlich ausschließlich deutsch, obwohl der Wortführer etwas Englisch kann. Nicht gut, aber gut genug um Peter - der viele Jahre in England unterrichtet hat und daher die Sprache perfekt beherrscht - auf dessen vermeintliche grammatikalische Fehler hinzuweisen. Es ist lächerlich und peinlich! Der Wortführer nervt mit spießigem Geschwafel und vertritt unter anderem ernsthaft die Meinung, dass Leute ab 60 nicht mehr in Herbergen aufgenommen werden sollten, da sie häufiger als jüngere Menschen zum Schnarchen neigen. Da er selber in diesem Alter ist, stellt er offensichtlich eine bewundernswerte Ausnahme dar!
Er versäumt auch nicht, uns sein Patentmittel gegen diese errorschnarcher zu verraten. Erst gestern kam er gegen 21:45 Uhr in die Herberge. Viele schliefen schon und das Licht war bereits ausgeschaltet. Das sah er natürlich nicht ein, schließlich ist die Herberge bis 22:00 Uhr geöffnet. Also schaltete er zunächst das Licht ein und zog sich um. Dann legte er sich ebenfalls hin, nahm jedoch wie jeden Abend seine Schuhe mit ins Bett und schlief ein. Natürlich weckten ihn diese Terrorschnarcher, wie jede Nacht. Also zog er seine Schuhe an und sprang mit beiden Beinen auf den Boden, so laut, dass auch wirklich alle wach wurden. Dann ging er auf die Toilette, wobei er möglichst viel Krach machte. Er musste zwar nicht austreten, aber er brauchte ja ein Alibi für seinen Radau. Danach legte er sich wieder hin und da er stets schnell einschläft, träumte er bereits, bevor diese Terrorschnarcher wieder in ihren Schlaf finden konnten. Er nennt diese schon des öfteren praktizierte Methode schlau, ich nenne das bestenfalls rücksichtslos!
Die Mahlzeit ist nur mittelmäßig, die Gesellschaft nervt und so zerstreuen sich bald alle. Stefan hat (wieder mal) noch Hunger und möchte noch irgend etwas essen, Peter und Gary begleiten ihn noch auf ein Bier. Das deutsche Trio soll der Teufel holen und ich gehe ins Bett, da ich noch Tagebuch schreiben möchte und darüber hinaus morgen sehr früh aufstehen muss, um die geplante Etappe schaffen zu können.
Auf dem Weg zum Zimmer erfahre ich, dass heute Kinderfest ist, daher auch die Unmengen von Hüpfburgen auf dem Kirmesplatz. Das ganze Dorf ist auf den Beinen und wie befürchtet, schallt die Musik extrem laut durch alle Straßen. Jetzt verstehe ich auch die Notwendigkeit der völlig überdimensionierten Musikanlage. Nicht der zentrale Platz soll beschallt werden, sondern das ganze Dorf! Auf der riesigen Bühne toben die Künstler, davor die Spanier. Allerdings sind die Zuschauer sehr mit sich selber beschäftigt, kaum jemand beachtet das Geschehen auf der Bühne. Es herrscht eine mitreißende, tolle Stimmung!
Kurz darauf liege ich im Bett und kann natürlich nicht einschlafen, wie denn auch, bei dem Getöse? Ich überlege wieder aufzustehen um auf dem Platz ein Bier zu trinken, als die Musik kurz nach 22:00 Uhr schlagartig aufhört und es überraschend leise wird. Ich schlafe selig ein.
KNALL!
Es ist 23:30 Uhr und ein unglaublich lauter Böllerschuss lässt mich senkrecht im Bett sitzen. Von plötzlich einsetzender Musik begleitet wird ein Feuerwerk entzündet, das den großen Feuerwerken in Köln oder Düsseldorf in nichts nachsteht. Ich sehe nur einen Teil, aber es ist schon eindrucksvoll, was diese kleine Gemeinde hier auf die Beine stellt. Etwa eine halbe Stunde lang schießen unzählige Raketen in die Luft und tauchen das Dorf in Goldregen und bunte Farben.
Dann herrscht plötzlich wieder Ruhe und ich schlafe erneut ein.
KNALL!
Die Uhr zeigt auf Mitternacht, die Bühne ist erneut in Betrieb und jetzt wird bis in die Morgenstunden gefeiert. Ich denke an das kleine gallische Dorf von Asterix und Obelix, da sind auch alle bekloppt und irgendwo in der Nähe muss es doch sein. Oder bin ich vielleicht zufällig in genau diesem Dorf gelandet?
Mit diesen Gedanken falle ich in einen sehr unruhigen Schlaf, der immer wieder durch am Haus vorbeilaufende, laut lachende Menschen gestört wird.