Die Ruhe im eigenen Zimmer lässt mich recht lange schlafen. Erst gegen 8:00 Uhr wache ich auf, und finde eine SMS von Peter vor. Er befindet sich eine Tagesetappe vor mir. Leider erfahre ich auch, dass Stefan wegen seiner Fußprobleme abbrechen musste, und sich bereits auf dem Weg nach Hause befindet. Gegen 8:30 Uhr verlasse ich das einfache Hotel.
In einer netten Bar um die Ecke fülle ich das Deckblatt meines neuen Credencials aus. Ab sofort werde ich diesen benutzen. Zwar passen in den alten noch einige wenige Stempel hinein, jedoch möchte ich mehr als nur drei oder vier Stempel in meinem neuen Ausweis haben. Ich bezahle mein kleines Frühstück und stelle wieder einmal fest, dass einem das Wechselgeld hier grundsätzlich auf einer Untertasse oder einem kleinen Teller zurückgegeben wird.
Ich setze meinen Weg fort, und verliere im Straßendickicht der Stadt die Orientierung. Ich verlaufe mich völlig, sehe aber plötzlich in einiger Entfernung eine kleine Ansammlung von Menschen mit Rucksäcken. Das muss der richtige Weg sein. Ich erreiche die Gruppe und bemerke, dass es sich um Schüler vor einem Schultor handelt. Also trotte ich zurück zur Hauptstraße und suche weiter. Etwa eine Stunde benötige ich, um aus der Stadt herauszukommen und den richtigen Weg zu finden. Mittlerweile ist es schwül und warm geworden, ich ziehe meine Jacke aus, und trotte los.
Es ist wieder einmal ein schöner Spaziergang. Die Wolken bringen einige kurze Nieselregen mit sich, das jedoch ist bei der schwülen Hitze eher angenehm. Nach kurzer Zeit überholt mich Ballermännchen und lässt einige dumme Sprüche ab. Ich gehe bewusst langsamer, so dass er nach ein paar Minuten einen hinreichend großen Vorsprung hat. Überhaupt steckt mir heute die gestrige lange Etappe in den Knochen, und ich bin nicht sonderlich schnell.
In Camponaraya gönne ich mir einen Brunch. Kaum sitze ich, poltert Ballermännchen herein. Ich muss ihn offenbar irgenwo wieder überholt haben. Der Typ ist wirklich seine eigene Karrikatur, und wahrscheinlich glaubt mir eh niemand, was ich über ihn berichte. Aber es entspricht der Wahrheit, so Jemanden kann man sich ja kaum ausdenken! Kaum dass er mich sieht, brüllt er mich quer durch den Raum an, und möchte wissen, wo Giulia sei. Was weiß denn ich? Dann bestellt er sich etwas und während er wartet verliest er lauthals einige SMS'e aus seinem Handy. "Ich bewundere Dich und Deine Leistung, Maria" heißt es da, und "Ich beneide Dich, toll wie Du das hinkriegst, Deine Gabi", sowie "Super, Du schaffst das, Kuss Claudia" ... und so weiter. Er scheint einen richtigen Harem zu haben, und ich kann kaum glauben, dass er diese E-Mails wirklich alle bekommen hat, aber es ist mir auch gleichgültig. Ich esse in Ruhe auf und gehe dann weiter nach Casabelos, wo ich an einem Bankautomaten etwas Geld ziehe.
Der Camino ist mittlerweile wesentlich bevölkerter. Ganz im Kontrast zu der bislang eher besinnlichen und ruhigen Wanderung gehen ständig vor und hinter mir zahlreiche Pilger. Eine laute Pilgergruppe steht diskutierend neben einer winzigen Kapelle und die Leute fotografieren erst die Kapelle, dann sich gegenseitig und zuletzt auch mich. Im Gegenzug fotografiere ich sie, was sie etwas pikiert. Es darf geraten werden, welcher Nationalität sie angehören!
Der Weg führt entlang einer Landstraße, und ich muss darauf achten, wo ich hintrete. Daher habe ich meinen Blick auf die Straße gerichtet und sehe nicht den Mann, der abseits der Straße steht. Ich schrecke zusammen, als er mich plötzlich förmlich anschreit. Es ist ein richtig alter, aber netter Spanier! Offenbar hört er fast nichts mehr, aber er hat eine unglaublich laute Stimme. Er möchte wissen, woher ich komme, und wohin ich gehe. Dann erzählt er mir irgend etwas, aber ich verstehe absolut nicht, was er mir sagen möchte. Es scheint jedoch wichtig zu sein, er wiederholt es mehrfach, dabei macht er eine Bewegung, als ob er sich die Finger abschneiden würde. Nach der sicher fünften Wiederholung überlege ich mir, wie ich das Gespräch möglichst höflich beenden kann. Ich fasse mir plötzlich - als hätte ich eine Eingebung gehabt - an den Kopf, lache ihn an, nicke und sage "`si, si"'. Er strahlt zurück, klopft mir auf die Schulter und ich darf weitergehen. Ich grübele darüber nach, was er mir sagen wollte, vielleicht war es ja die wichtigste Information meines Lebens gewesen, z.B. wo der heilige Gral wirklich liegt oder wer Kennedy ermordet hat. Mit diesen Gedanken gehe ich weiter nach Villafranca.
Kurz vor dem Ziel meiner heutigen Wanderung überholt mich eine sehr sportliche Frau. Sie joggt den Camino, mit einem winzigen Rucksack auf dem Rücken. Während sie vorbeiläuft, tauschen wir einige Sätze aus, und ich erfahre, dass sie jeden Tag so um die 50-60 km läuft. Sie trainiert für Marathonläufe. WOW! Ihr Begleiter fährt mit einem Rad hinter ihr her und lächelt mich ein wenig hilflos an.
Müde trottend erreiche ich mein heutiges Tagesziel. Mittelalterliche Pilger nannten Villafranca del Bierzo auch Klein-Compostela, da Kranke und Schwache, die ihre Wallfahrt abbrechen mussten, hier den gleichen Ablass bekommen konnten wie am Apostelgrab.
Die heutige Herberge ist wirklich grenzwertig, die Duschen betrete ich nur widerwillig und mit Badeschlappen an den Füßen. Ich mache mich notdürftig frisch und gehe dann zum Abendessen. Auf dem Weg dorthin treffe ich die "Gang", und gemeinsam gehen wir in ein Restaurant. Dort sitzen schon Maria und ihre beiden Österreicher, an deren Tisch ich mich setze. Es ist ein kurzweiliger Abend.
Gegen 20:00 Uhr schleppe ich mich müden Fußes zurück in die Herberge und überlege, welchen Weg ich morgen gehen möchte. Die nächste Etappe ist laut meines Reiseführers La Faba. Dort gibt es jedoch nur eine Herberge mit lediglich 30 Betten. Und der Camino wird zunehmend voller. Die nächste Herberge wäre dann in O Cebreiro, das wäre dann allerdings eine lange Etappe. Zudem bieten sich hinter La Faba zwei mögliche Wege an. Der eine führt entlang einer viel befahrenen Landstraße und ist angeblich lebensgefährlich, der andere führt über einen Berg und soll sehr anstrengend sein. Gehe ich also die Landstraße und weiter bis O Cebreiro oder nehme ich den schwierigen Weg nach La Faba und riskiere kein Bett mehr zu bekommen? Ich verschiebe die Entscheidung auf morgen früh und schlafe alsbald ein.