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Tag 22
von Villar de Mazarife nach Astorga
Samstag, 10. Mai 2008
 

Diese Nacht habe ich unruhig geschlafen. Der eine Schnarcher hätte mich nicht so sehr gestört, aber es war unangenehm kalt. Immer wieder wachte ich auf, und es wurde mir in meinem Schlafsack nicht warm. Daher bin ich auch in keinster Weise frisch oder auch nur ausgeruht, und benötige viel Zeit, um aufzustehen und meine sieben Sachen zu packen. Erst kurz vor 8:30 Uhr sitze ich im einzigen geöffneten Restaurant des Ortes. In Anbetracht der heutigen langen Etappe, es sind ca. sieben Stunden bis Astorga, bin ich richtig spät dran.

jw 22 04Kaum dass mein café con leche vor mir steht, betritt Ballermännchen, der hier wohnt, den Raum. Er setzt sich zunächst irgendwo hin, bestellt einen Kaffee und geht dann mit der Tasse in der Hand von Tisch zu Tisch. Dort erzählt er jedem von seinen Fußproblemen und dass er heute wohl oder übel mit dem Taxi fahren wird. Eigentlich hört ihm niemand zu, aber er erzählt es so laut, dass es einfach jeder mitbekommen muss. Bevor er meinen Tisch erreicht, stehe ich auf und verlasse das Restaurant. Es ist 8:45 Uhr, und der Camino hat mich wieder.

jw 22 02Ein sanfter Nieselregen begleitet mich durch den Beginn des heutigen Tages. Das stört mich nicht, meine Kleidung hält das ab. Das es kühl ist, kommt mir nun sehr entgegen, ich bevorzuge kühle Temperaturen und bin dann auch sehr viel leistungsfähiger. Ab 18° Celcius wird es mir unangenehm warm und jedes weitere Grad verringert mein Wandertempo.

jw 22 03Der Nieselregen entwickelt sich zu einem Dauerregen, und die erste Teil\-etappe führt über Feldwege. Der Weg ist recht beschwerlich. Wo er halbwegs gerade verläuft, befinden sich tiefe Pfützen, und wo kein Wasser den Weg versperrt, liegen große Steine. Das ist Gift für die Füße.

Mit schmerzenden Füßen erreiche ich Villavante. In der dortigen Bar sitzen etwa zehn Pilger, alle aus Deutschland, aber ich kenne niemanden von ihnen. Während ich meinen café con leche schlürfe und einen Bocadillo esse, bricht etwa die Hälfte auf, sie werden ersetzt durch eine andere Gruppe von sechs Pilgern, ebenfalls aus Deutschland.

In Anbetracht des mittlerweile widerlichen Wetters, beschließe ich, die nächste Teiletappe nach San Justo de la Vega ohne weitere Pause zurückzulegen. Außerdem werde ich entlang der Landstraße wandern, um den unschönen Steinen und Pfützen zu entgehen.

jw 22 08jw 22 07Das jedoch war eine schlechte Idee. Die Straße ist stark befahren, ständig brausen Autos und LKW's an einem vorbei. Zudem ist sie unglaublich eintönig. Alle 50 Meter steht ein Pfosten, und diese endlose Reihe verliert sich in der Ferne. Ich zähle Schritte, Schilder und Pfosten, nur um mich irgendwie zu beschäftigen, und fange an zu rechnen. Bei zügigem Tempo auf Asphalt beträgt meine Schrittlänge 80,5 cm. Im Schnitt über alle Geländeformen sind es dann vielleicht 70 cm. Das macht grob 1,3 Millionen Schritte von St. Jean nach Santiago, +/- 100000!

jw 22 06Unterwegs versuche ich ständig, Elke in ihrem Büro zu erreichen. Aber sie ist offensichtlich nicht an ihrem Arbeitsplatz. Schließlich fällt mir ein, dass heute ja Samstag ist, und ich wähle die private Nummer. Sofort hebt sie ab. Man verliert auf einer solchen Wanderung wirklich das Zeitgefühl.

jw 22 09Kurz nach 15:00 Uhr gönne ich mir in San Justo de la Vega eine Cola. Dann schleppe ich mich erneut über unbequeme Feldwege nach Astorga in die Herberge San Javier. Diese ist recht groß und sauber, aber im Schlafraum stehen etwa 50 Betten. Da ist eine unruhige Nacht vorprogrammiert.

jw 22 11jw 22 10Gleich unter mir im Etagenbett richtet sich gerade Maria, die fröhliche Mittfünfzigerin ein, die mich zuletzt in León so herzlich begrüßte. Weitere bekannte Gesichter belegen einige Betten in der Nähe, z.B. Andreas, der Gitarrenspieler, eine australische Dame, deren Namen ich vergessen habe und - OWEH! ... Ballermännchen! Er liegt gleich gegenüber. Was habe ich nur verbrochen, dass ich ihn erneut ertragen muß? Monika war ja der festen Überzeugung, dass mir diese wiederkehrenden Begegnungen etwas sagen sollen! Er erzählt laut allen, die es hören und nicht hören wollen (die meisten wollen eher nicht) was er heute alles erlebt hat, die Taxifahrt, und dass normale Pilger bei seinen Fußproblemen schon längst abgereist wären, er jedoch hält durch...blablabla...

Ich gehe erst mal duschen. Unter dem warmen Wasserstrahl spüre ich wieder einmal deutlich, wie abgekämpft ich bin. Ich spiele mit dem Gedanken, ein oder zwei Tage zu pausieren, ein Zimmer zu nehmen und einfach mal auszuspannen. Das bedeutet aber, alleine in einer Ortschaft zu sitzen und Zeit totschlagen zu müssen, eine wenig erfreuliche Aussicht. Andererseits würde Ballermännchen einen Vorsprung bekommen und ich wäre ihn endlich los. Das aber ist nicht sicher. Am Ende bleibt er wegen seiner Füße auch hier und ich habe ihn erst recht am Hals. Außerdem möchte ich mir von diesem Idioten nicht meinen Camino diktieren lassen! Also werde ich morgen wie geplant weitergehen, und schauen, ob ich ohne einen Pausentag zurecht komme.

jw 22 12ajw 22 14Zurück an meinem Bett verkündet Ballermännchen lauthals, dass er heute Abend Party haben möchte und fragt, wer mit ihm auf die Rolle will. Niemand! Laut polternd zieht er alleine los. Kaum ist er fort, fragen mich Dirk und sein Begleiter, ob ich sie zum Abendessen begleiten mag. Einige der bekannten Gesichter schließen sich ebenfalls an. Wir gehen gemeinsam in die Stadt. Diese wird baulich von der Catedra de Santa Maria dominiert. Da jedoch alle recht müde sind, kommt keine richtige Unterhaltung zustande, wir essen in aller Ruhe unser Abendmahl und gehen mehr oder weniger gleichzeitig zu Bett.

Sofort falle ich in einen tiefen Schlaf.

 
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