Bis gegen 4:00 Uhr schlafe ich tief und fest, dann jedoch stört der unter mir liegende, italienische Schnarcher meine Nachtruhe empfindlich. Ich drehe und wende mich und jedes Mal, wenn ich meine Position im Bett verändere, wackelt zwangsläufig das Bett ein wenig. Das wiederum veranlasst den unter mir liegenden Menschen sich ebenfalls im Schlaf zu bewegen, das Schnarchen verstummt für einen kurzen Moment, ich falle in einen Halbschlaf, erneutes Schnarchen reißt mich wieder heraus, ich ändere meine Position, das Schnarchen verstummt, ich falle in den Halbschlaf, das Schnarchen setzt erneut ein....
Dieses Spielchen treiben wir, bis gegen 6:30 Uhr die meisten Pilger aufwachen und sich auf den Weg machen. Ich fühle mich wie erschlagen und bin noch sehr müde, daher bleibe ich noch eine weitere Stunde liegen und döse vor mich hin.
Gegen 7:45 Uhr hat mich der Camino wieder. Der Weg führt eigentlich zunächst über Feldwege nach Viloria de Rioja, dann zurück zur Landstraße. Da ich heute Morgen kaum Fußprobleme habe und das möglichst auch so bleiben soll, beschließe ich, gleich auf dieser Landstraße zu wandern. Das erspart mir etwa zwei Kilometer des Fußweges.
Es sind fast ausschließlich LKW's unterwegs, kaum ein PKW findet sich zwischen den Lastern. Diese fahren mit hohem Tempo und an besonders engen Stellen ist der Sog dieser Riesen nicht ganz ungefährlich, zumal sie sehr dicht an mir und einigen anderen Pilgern vorbeirauschen. Nicht genug, dass dieser unangenehme Sog Staub aufwirbelt, es kommt jetzt auch noch ein sehr starker und kalter Wind auf - und wie es sich für eine Pilgertour wohl gehört - genau von vorne. Ursprünglich hatte ich die Idee, in zwei Tagen Burgos zu erreichen, doch in Anbetracht meines momentanen Wandertempos verwerfe ich diesen Gedanken schleunigst.
Um diese unangenehme Etappe schnellstmöglich hinter mich zu bringen, gehe ich ohne Unterbrechung bis nach Belorado, immerhin etwa 13 km. Dort treffe ich in einem Café auf Sonja, die Koreanerin Sue und das ungarische Mädchen Nr.2, die mit zwei Brasilianern unterwegs sind. Sie sitzen schon eine ganze Weile zusammen und fordern mich auf, mir ebenfalls einen Stuhl dazu zu stellen. Offensichtlich haben die Ungarin und einer der Brasilianer zueinander gefunden, denn sie sitzen Händchen haltend am Tisch. Manfred kommt hinzu und setzt sich neben mich. Das empfinde ich als sehr störend. Alle am Tisch reden englisch und es ist eine lustige Runde, nur Manfred redet mich ständig auf Deutsch an. Er ist eigentlich ganz nett, aber diese Unterbrechungen in deutscher Sprache reißen mich immer wieder aus dem eigentlichen Gespräch heraus und das nervt extrem. Irgendwann stehen alle außer Manfred und mir auf - ich bin ja gerade erst angekommen - und gehen, Sue in die nächste Apotheke, um Arznei für ihre geschundenen Füße zu kaufen, die anderen weiter nach San Juan de Ortega. Dafür setzt sich eine sehr nette Kanadierin namens Pascale an unseren Tisch. Sie benötigt einen Tag Pause und bleibt daher heute hier im Ort.
Ich mache mich wieder auf den Weg. Nach kurzer Zeit kommt mir ein ungewöhnlicher Mann entgegen. Er trägt einen großen, schweren und randvoll bepackten Rucksack auf dem Rücken - und einen etwas kleineren, ebenfalls prallvollen Rucksack auf dem Bauch! Ich denke zunächst, dass er diesen aus Hilfsbereitschaft für jemand anderen schleppt, aber die Art, wie er befestigt ist und die Tatsache, dass weit und breit niemand zu sehen ist, überzeugen mich davon, dass er tatsächlich ihm gehört. Er fragt mich, woher ich denn komme, schreit laut "Bon Camino Germany" und springt mit großen Sätzen von dannen, ein bunter Vogel!
Kurz vor Tosantos kommt mir ein älterer, ebenfalls uriger Spanier entgegen. Er sitzt auf einer Art Rasenmäher und führt offensichtlich seinen Hund aus, der an einer langen Leine nebenher läuft. Er fährt langsamer als ich gehe - vielleicht 3 km/h -, aber der Motor erzeugt dabei einen ohrenbetäubenden Lärm. Lustig ist sein Outfit: er trägt eine komplette Rennbekleidung aus Leder, einschließlich eines bunt lackierten High-Tech Helmes!
Nach einem kurzen Café-/Toilettenstopp in Tosantos geht es weiter nach Villambistia. Dort gönne ich mir in der hiesigen Herberge ein Glas Bier. Eigentlich wollte ich es ja heute bis Espinosa del Camino schaffen, aber der Anblick einer Waschmaschine und der gegenwärtige Zustand meiner Wäsche veranlassen mich, heute hier zu übernachten. Da ich mich nun eh mit drei Etappen bis Burgos abgefunden habe und diese mit ca. 20 km allesamt recht kurz sind, ist es unerheblich, wo ich heute übernachte.
Ich zahle also mein Bier, buche das Zimmer und fülle noch vor dem Duschen die Waschmaschine. Es ist ein professionelles Gerät von Miele, riesengroß, mit zugehörigem Trockner und computergesteuert. Sensoren ermitteln Typ und Verschmutzungsgrad der Wäsche und dosieren automatisch die benötigte Menge Waschmittel aus einem der vielleicht sechs mit verschiedenen Chemikalien gefüllten Behältern. In einem winzigen Ort wie diesem ein solches Gerät vorzufinden ist unglaublich und ich vermute, dass diese Maschine mehr Strom benötigt, als die übrigen, höchstens 30 Einwohner dieser winzigen Ortschaft.
Die Herberge ist hervorragend, ganz neu, sehr sauber, erfreulich hell und alles wirkt frisch. Der Kaffeeautomat des zugehörigen Restaurants erzeugt einen hervorragenden café con leche und die Besitzer und Herbergseltern sind sehr freundlich. Sie umgeben sich gerne mit Pilgern und das merkt man ihnen ganz deutlich an.
Da sich die Waschmaschine noch dreht, raffe ich mich auf, um den Ort zu erkunden. Hier ist in der Tat der Hund begraben, meine Runde dauert keine 10 Minuten. Also beschließe ich, die drei Stunden bis zum Abendessen im Bett zu verbringen und etwas Spanisch zu lernen. Zurück in der Herberge stelle ich fest, dass die Herbergsmutter die Wäsche bereits in den Trockner gelegt hat.
In meinem Schlafsack liegend, lasse ich den Tag Revue passieren. Heute war es recht kühl und obwohl die Sonne immer wieder mal schien, musste ich wegen des kalten Windes erstmalig auf meinem Camino den ganzen Tag meine Jacke tragen. Leider habe ich auch meinen Hut verloren.
Da ich heute die Ungarin Nr.2 sah, muss es sich bei der von der Zecke gebissenen Ungarin wohl doch um meine Muschelfee handeln, zumal ich sie nicht wieder getroffen habe.
Mein Vorhaben etwas Spanisch zu lernen scheitert heute am Schreiben und Lesen meines Tagebuches. Es ist unglaublich, was ich bis hierhin schon alles erlebt habe und ohne mein Tagebuch hätte ich vieles bereits vergessen. Zu viele Erlebnisse und Eindrücke ziehen an mir vorüber, als dass ich alle behalten könnte.
Der Akku meines Handys bedarf neuer Energie. Um jedoch die einzige Steckdose des Zimmers nutzen zu können, muss ich mein Bett ein Stück weit verschieben. Nachdem das geschafft ist, lade ich neben dem Akku auch das Spiel Trivial Pursuit auf mein Handy und abwechselnd spiele und döse ich bis zum Abendessen.
Die Herberge ist kaum besucht, vielleicht weil sie ganz neu und daher noch unbekannt ist. Das erhöht die Aussicht auf eine ruhige Nacht. Lediglich zwei Ehepaare übernachten heute noch hier. Für uns fünf wird ein Tisch schön gedeckt und der Wirt bereitet eine wirklich leckere Paella, mit Langusten und allem drum und dran. Dafür möchte er nur zehn Euro! Der Wirt und seine Familie - dazu gehören noch einige Kinder - setzen sich immer wieder mal dazu und gehen wieder, es ist ein fröhlicher Abend.
Das ältere Ehepaar kommt ursprünglich aus Amerika, wohnt aber seit sieben Jahren in Spanien. Sie gehen den Weg anläßlich ihres 40. Ehejubiläums. Sie sind sehr nett. Einige Tage später erfahre ich ihre Namen, John und Jenny und ich werde sie auf meinem Camino noch öfters treffen. Das jüngere Ehepaar stammt aus Italien und da sie nur sehr spärlich die englische Sprache beherrschen, findet die Konversation wieder einmal mit vielen Gesten und unter lautem Gelächter statt.
Beiden Paaren ist der hohe Anteil an Deutschen, sowie der Umstand, dass viele von ihnen häufig mit dem Bus fahren, aufgefallen. Sie wollen etwas über Kerkelings Buch erfahren, von dem sie schon so viel gehört haben. Das ältere Paar berichtet, dass es jetzt in zahlreiche Sprachen übersetzt werden soll und wir sind uns einig, dass dieses Vorhaben dem Camino sehr schaden wird. Noch mehr Leute werden kommen, die dann sagen können: "Ich war auch da. Seht meine Urkunde. Ich bin zwar viel Bus gefahren, aber da bin ich ja in bester Gesellschaft!"
Früh gehen alle zu Bett und es wird eine sehr ruhige Nacht.