Dieser Tag soll mir wieder einmal zeigen, wie unberechenbar der Camino sein kann, wie schnell sich Dinge ändern und Pläne in Luft auflösen können.
Wir haben verschlafen! Zwar hatte Ina den Wecker gestellt, aber der Ton war ausgeschaltet. Wir wachen also etwas später auf. Ina äußert den Wunsch, zunächst einmal frühstücken zu gehen, da sie mir etwas mitteilen möchte, was nicht zwischen "Tür und Angel" geht. Nun, mir soll es recht sein, da es einen Sonnenaufgang über der Meseta ganz sicher auch morgen geben wird und so machen wir uns auf die Suche nach einem Frühstückskaffee.
Während des Frühstücks berichtet sie mir, dass sie die ganze Nacht wach gelegen, gegrübelt und schweren Herzens den Entschluss gefaßt hat, ihre Reise hier abzubrechen. Ihre Gesundheit erlaubt es ihr nicht, weiterzugehen. Folglich werden wir heute Bus fahren, sie zurück nach Burgos, von dort nach Madrid und mit dem Flieger nach Berlin, ich weiter nach Terradillos de los Templarios. Was für eine traurige Mitteilung, aber ihre Beweggründe sind schwerwiegend und nur allzugut nachvollziehbar!
Da wir nun Zeit haben, verbringen wir den Vormittag essend, trinkend und uns unterhaltend in der Bar. Diese verfügt auch über einen PC mit Internetanschluss, sodass Ina auch ihren Flug hier buchen kann. Da die Fluggesellschaft ihre Kreditkarte nicht akzeptiert, bezahle ich den Flug mit meiner Karte und sie gibt mir das Geld in bar zurück.
Nicht ganz klar ist, wo wir die Fahrkarten für den Bus bekommen können. Schließlich erfahren wir, dass es die in einer anderen Bar gibt, die gleichzeitig Ticketverkauf und Haltestelle darstellt. Die Tickets können allerdings erst kurz vor der Abfahrt gekauft werden. Mein Bus fährt um 12:50 Uhr, Ina's um 17:00 Uhr. Also haben wir noch reichlich Zeit, gemütlich in dieser Buslokal-Ticketverkauf-Kiosk-Restaurant-Haltestelle noch mehr zu trinken und zu schwatzen.
Hier gibt Ina mir einen Stein mit auf den Weg, verknüpft mit der Bitte, ihn am Cruz de Ferro für sie abzulegen. Da steh ich nun, ich, der ich mich für keinen Pilger halte, mit meinem Hut, den eine große Muschel ziert, da ich meinen Strohhut ja zurück gelassen hatte, mit der Muschel einer Ungarin, die wegen eines Zeckenbisses nicht weiter konnte und dem Stein von Ina, die wegen ihrer Gesundheit abbrechen muss. Fehlt nur noch der Pilgerstab.
Mit einer halben Stunde Verspätung trifft der Bus ein. Weitere 30 Minuten später fährt er dann weiter. Der Fahrer musste schließlich erst einmal etwas trinken und palavern. Man hat hier eben Zeit! Der Abschied von Ina ist kurz aber herzlich und irgendwann zwischen 14:00 und 15:00 Uhr finde ich mich in Terradillos de los Templarios wieder.
Dieser - früher dem Templerorden gehörende - Ort ist ein rechtes Kaff. Die Herberge ist ganz schön, aber es bleibt einem nichts über, als zu duschen und auf das Abendessen zu warten. Als Antwort auf eine SMS teilt mir Stefan mit, dass er mit Peter in einem Zug nach León sitzt, also schon heute dort ankommt. Schade, die beiden werde ich wohl auch nicht mehr treffen.
Ina sitzt jetzt wohl im Bus nach Burgos. Ich bedaure sehr, dass sie nicht weiter konnte und mir wird bewusst, dass es gar nicht so selbstverständlich ist, gesund zu sein.
Auf dem Weg zum Abendtisch treffe ich die Geigenspielerin, deren Musik ich kürzlich unter der Dusche hörte. Jetzt weiß ich also, dass es sich um eine junge Frau handelt.
Das Abendessen ist sehr gut, das Highlight des Tages. Ich teile mir mit 5 Deutschen und 2 Neuseeländerinnen einen Tisch. Eine der deutschen Frauen hat eine sehr hohe, piepsige und völlig nervende Stimme. Ich bin eh nicht so gut gelaunt, also gehe ich bald ins Bett, zumal ich morgen sehr frühzeitig aufbrechen möchte. Ich nehme mir vor, die nächsten beiden Tage zügig zu wandern und am Nachmittag des zweiten Tages die letzten Kilometer nach León hinein mit dem Bus zu fahren, um mir diesmal wirklich die öde Latscherei über Asphalt zu ersparen.
Auch in dieser Herberge sind erneut weit über die Hälfte der Pilger deutscher Abstammung. Zwei von ihnen liegen auf meinem Zimmer. Sie haben sich vor einigen Tagen kennen gelernt und gehen nun gemeinsam. Jetzt bittet einer der beiden den Anderen, doch etwas auf seiner Mundharmonika zu spielen. Dieser ziert sich zunächst, aber es ist klar, dass er spielen möchte. Schließlich beginnt ein weiterer Tiefpunkt deutscher Pilgerkultur. Er spielt ein bekanntes Abendlied, leider völlig falsch, mit vielen Aussetzern und trifft eigentlich keinen Ton. Nur mit Mühe lässt sich erkennen, um was für eine Melodie es sich handelt.
Die Herberge ist ein ehemaliger Stall, die einzelnen Räume sind nach oben hin - in den Dachstuhl hinein - offen, und somit über diesen verbunden, so dass diese "Musik" in alle Räume dringt. Nach einigen schmerzvoll langen Minuten, mehreren Wiederholungen des Hauptthemas und dem bittenden Ruf eines Pilgers aus einem Nachbarzimmer "dass es jetzt gut sei" folgend, packt er - Gott sei Dank - die Mundharmonika völlig selbstzufrieden wieder ein. Sein Kumpel klatscht begeistert in die Hände und ruft, nein, brüllt "Applaus für meinen Freund" und "Zugabe". Es ist einfach nur peinlich! Da jedoch aus gutem Grunde es ihm niemand gleich tut, verbleibt sein Instrument im Rucksack. Gott wirf Hirn herab! Jetzt unterhalten sich die beiden über die Geigenspielerin, die ja ebenfalls in dieser Herberge übernachtet, und der Mundharmonikaspieler äußert den Wunsch, doch einmal mit ihr spielen zu können. Was für ein Größenwahn! Und warum eigentlich fallen mir immer nur die Deutschen so negativ auf?