Die Nacht ist wieder einmal sehr unruhig. Gegen 6:00 Uhr beginnt das übliche Geraschel und ich frage mich erneut, was man an und in einen Rucksack eigentlich 45 Minuten lang packen kann.
Irgendwann breche ich auf und finde schon nach kurzer Zeit eine kleine Bar für meinen ersten café con leche des Tages. Der Weg nach O Cebreiro ist nicht sonderlich schwierig, aber wegen der hohen Luftfeuchtigkeit sehr schweißtreibend. Leider verhindern tiefhängende Wolken und Nebel die Sicht auf die sicherlich sehr eindrucksvolle Umgebung.
In O Cebreiro gönne ich mir ein erstes Frühstück. Dieser Ort gehört zu den ältesten Pilgerrefugien am Jakobsweg, uns ist daher sicher einer der Höhepunkte der Wanderung. Deshalb lasse ich meinen Credencial hier abstempeln, obwohl ich hier nicht übernachtet habe. Dass diese Ortschaft einen besondere Ruf hat, schlägt sich auf die Preise nieder, ein Kaffee kostet hier fast das Doppelte wie gewöhnlich. Ich halte mich nicht lange auf, und verlasse alsbald über den hier ungewöhnlich schlecht markierten Weg die Ortschaft.
Mein zweites Frühstück nehme ich in Fonfría ein. Kaum sitze ich, kommt Ballermännchen rein und setzt sich an meinen Tisch. Er will wieder einmal wissen, wo Giulia ist. Der Typ ist wirklich eine Plage. Aber dann stellt die Wirtin mein Baguette auf die Theke, ich hole es mir ab und nutze die Gelegenheit, mich an den Tisch von Sonja und ihrem Begleiter zu setzen, die in einer Ecke des Raumes ihr Frühstück zu sich nehmen. Von Sonja erfahre ich, dass von mehreren Herbergen in Triacastela nur die Herberge Aitzenea eine Waschmöglichkeit hat. Somit ist klar, wo ich heute übernachte, denn ich trage mein letztes sauberes T-Shirt! Ballermännchen setzt sich nun ungefragt zu uns und nervt, daher breche ich früher auf, als ich eigentlich beabsichtigt hatte.
Kaum habe ich das Café verlassen und bin vielleicht 30 Sekunden unterwegs, spricht mich eine ziemlich alte und zahnlose Frau an. Ich verstehe nicht, was sie will, aber sie winkt mich in einen völlig heruntergekommenen Stall. Dort steht ein Stuhl und ein halbwegs sauberer Tisch. Auf diesem wiederum befindet sich ein hoher Stapel recht appetitlich wirkender Pfannekuchen, von denen sie mir einen anbietet. Nun ich habe zwar gerade ein Thunfischbaguette verspeist und möchte daher eigentlich nichts essen, aber so ein kleiner Pfannekuchen geht immer. Zudem möchte ich nicht unhöflich sein. Selbstverständlich möchte die Oma einen Euro für den Pfannekuchen haben, sie bessert sich damit ihre Rente auf. Klar ist das ein wenig Bauernfängerei, aber sie ist freundlich und ich bekomme das Backwerk immerhin in einer sauberen Serviette gereicht.
Da es im Stall modrig und stickig ist, stelle ich mich vor die halb zerfallene Stalltüre, und wir schwatzen sicher 20 Minuten, ohne uns gegenseitig zu verstehen. Dabei beobachte ich eine rührende Szene. Ein kleines Stück die Straße herauf sehe ich ein recht baufälliges Häuschen mit einem kleinen Garten. In diesem wachsen verschiedene Gemüsesorten. Die Haustüre öffnet sich, und ein altes Ehepaar tritt heraus. Sich gegenseitig stützend gehen sie in ihren kleinen Garten. Sie beratschlagen sich kurz, dann geht er zu einem Schuppen, bringt einen Spaten und gräbt ein kleines Loch, was ihm offensichtlich schwer fällt. Daraufhin legt sie etwas in dieses Loch - vermutlich einen Samen -, schüttet Erde in das Loch zurück, bringt den Spaten zum Schuppen und kommt mit einer Schubkarre wieder. Zwischenzeitlich hat er einen Kopf Salat geerntet und legt diesen in die Schubkarre. Gemeinsam die Karre schiebend gehen sie in ihr kleines Häuschen zurück.
Überhaupt sehe ich neben dem Camino viele ältere Menschen. Diese sind hier scheinbar mehr in den Alltag eingebunden, Altenheime sind - zumindest auf dem Land - vermutlich nicht so das Thema wie bei uns.
Frühstück und Oma verursachen einen insgesamt 45 minütigen Aufenthalt. Zwischenzeitlich regnet es stark. Um dem teils knöcheltiefen Schlamm des Caminos zu entgehen, beschließe ich, die Landstraße zu benutzen. Eigentlich sollte ich jetzt - laut Führer - gegen 14 Uhr in Triacastela sein. Leider weit gefehlt! Der Asphalt ist Gift für die Füße und die Straße verläuft in Serpentinen, so dass der Weg deutlich länger ist, als der mehr oder weniger geradlinige Camino. Ich möchte ein Auto anhalten und mich mitnehmen lassen, aber die Straße ist völlig unbefahren. Seit bestimmt eine Stunde kam kein Fahrzeug mehr vorbei. Ermattet und mit massiv schmerzenden Füßen setze ich mich an den Rand eines Feldweges, der in die Landstraße einmündet.
Ich sitze dort noch keine Minute, als ein Kleinbus eben über diesen Feldweg rappelt. Es handelt sich um den "Deutschen Pilgerservice", der die Koffer von Pilgern zu den jeweils nächsten Herbergen fährt, damit diese unbeschwert von Gepäck wandern können. Der Fahrer hat Feierabend und ist auf dem Weg nach Hause, aber er bietet mir an, mich in Triacastela abzusetzen. Das liegt in seiner Gegenrichtung, aber der freundliche Mann besteht darauf, und ich lasse mich nicht lange bitten. Auch weigert er sich, dafür etwas Geld anzunehmen. Nur ein Stück weiter sitzt eine Italienerin am Straßenrand, der es genau so ergeht wie mir. Auch sie wird eingeladen und kurze Zeit später werden wir am Ortseingang abgesetzt. Zu Fuß wäre ich noch mindestens 2 Stunden unterwegs gewesen.
Bei Triacastela gibt es Kalksteinbrüche. Im Mittelalter brachten Pilger üblicherweise einen Stein von hier zu den Kalköfen in Casteñada, wo der Kalk für die Kathedrale in Santiago gebrannt wurde. Da die Kathedrale jedoch zwischenzeitlich fertig gestellt wurde, mache ich mich gleich auf die Suche nach der richtigen Herberge. Es gibt in diesem Ort mindestens vier davon. Doch auch hier habe ich Glück. Der Fahrer hat uns genau vor der Türe abgesetzt, keine 30 Meter entfernt. Es handelt sich um ein schmuckes Natursteinhaus, in dem Messgewänder und Holzfiguren die Wände schmücken. Die Schlafzimmer sind klein, nur 6 Betten pro Raum. Ich bin der zweite oder dritte Gast heute, aber schon kurz nach meiner Ankunft ist die Herberge ausgebucht.
Waschmaschine und Trockner dürfen wie üblich nur von den Herbergseltern bedient werden. Ich gebe also meine gesamte Wäsche - außer einer Unterhose - ab, dusche und muss dann warten, bis alles gewaschen ist. Also lege ich mich hin und döse etwas, in Unterhose kann ich ja schlecht in die Stadt gehen. Auf meinem Zimmer wohnen heute drei ältere Französinnen und eine Mutter, deren Tochter mit ihrem Freund in einer der anderen Herbergen übernachtet. Wir wollen gemeinsam zu Abend essen.
Während ich so daliege, wird mir die heutige Ereigniskette bewusst:
\item Wäre Ballermännchen nicht an meinen Tisch gekommen, hätte ich nicht Zuflucht an dem Tisch von Sonja gesucht, und nicht gewußt, wo es eine Waschmaschine gibt.
- Wäre Ballermännchen mir nicht auch dorthin gefolgt, wäre ich noch länger sitzen geblieben.
- Wäre ich länger sitzen geblieben, hätte ich die Oma nicht getroffen.
- Hätte ich die Oma nicht getroffen, hätte ich den Pfannekuchen nicht gegessen und wäre daher nicht im Regen aufgebrochen.
- Wäre ich nicht im Regen aufgebrochen, hätte ich die Landstraße nicht genommen.
- Wäre ich nicht über die Landstraße gegangen, hätte mich der Bus nicht mitgenommen.
- Hätte mich der Bus nicht gefahren, wäre diese Herberge wahrscheinlich ausgebucht gewesen.
- Hätte ich hier kein Zimmer bekommen, wäre meine Wäsche jetzt nicht in Arbeit.
So hat sich eben alles gut gefügt, und ich schlafe friedlich ein.
Gegen 18 Uhr bekomme ich meine Sachen - gegen einen angemessenen Obulus - sauber und ordentlich gefaltet zurück, und ich breche mit meinen Zimmergenossinnen auf, um ein Restaurant zu suchen. Weitere Pilger schließen sich uns an, und wir haben am Ende eine nette Runde von etwa zehn Leuten beisammen. Mutter und Tochter nebst Freund wollen bis Santiago gehen und dort einige Tage bleiben, bevor sie nach Hause fahren. Ich erzähle, dass ich bis nach Finisterre gehen möchte. Die Alternative wäre, in Santiago auf meine Frau zu warten, aber da ich es deprimierend finde, alleine in einer Stadt abzuhängen, ist das keine wirklich gute Idee. Außerdem ergibt sich die Gelegenheit dazu vielleicht nicht wieder und ich hätte dann das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Die Drei tuscheln längere Zeit miteinander, und zum Nachtisch verkünden sie strahlend, das sie soeben den Entschluß gefasst haben, ebenfalls bis nach Finisterre zu pilgern.
Ein weiterer Tag neigt sich dem Ende zu, wir gehen in die Herberge und das leise Schnarchen der Mama begleitet mich in den Schlaf.