Heute Morgen bin ich ein wenig deprimiert. Sicher, wieder alleine im eigenen Rhythmus gehen zu können, ist angenehm, und ich denke, dass Ina und ich so etwa ab León wieder getrennt gegangen wären, aber es ist eben ein Unterschied, ob man diesen Entschluss selber faßt, oder er einem aufgezwungen wird. Allerdings verfliegen die düsteren Gedanken schnell, der Camino liegt vor mir, der Tag ist jung, das Wetter schön und die Ortschaften fliegen nur so an mir vorbei.
Irgendwo im Nirgendwo trinke ich einen café con leche und begebe mich zügig wieder auf den Camino, gespannt darauf, was er mir - neben endlosen Weizenfeldern - als Nächstes bieten wird. Diese Landschaft beeindruckt durch schiere Leere!
Um die Landstraße zu meiden, gehe ich einen kleinen Umweg, der mich an der Ziegelsteinkapelle Ermita de la Virgen del Puente vorbeiführt. Zu ihr findet jedes Jahr am 25. April eine Wallfahrt statt, bei der es neben Brot und Käse auch typische Tänze - die Tantárigas - gibt.
In Sehagún zwingen mich Hitze und Durst zu einer Pause. Es ist eine größere Ortschaft, die Cola dementsprechend teuer. Die Bar ist sehr schmutzig und die Luft darin unangenehm stickig. Also setze ich mich an einen Tisch vor die Bar, aber hier stinkt es erbärmlich nach Hundekot. Mittlerweile bin ich so an frische Luft und weite Landschaft gewöhnt, dass ich mich ungerne in Ortschaften aufhalte. Ich ziehe in Erwägung, León möglichst komplett mit dem Bus zu durchfahren und gar nicht erst dort zu übernachten.
Gegen Mittag erreiche ich nach einer weiteren anstrengenden Wanderung durch brütende Hitze mein heutiges Tagesziel Bercianos del Real Camino. Es ist jedoch noch zu früh, die Herberge aufzusuchen. Also setze ich mich zunächst in eine - diesmal hübsche - Bar und beschließe beim obligatorischen café con leche noch einen Ort weiter zuwandern. Das bedeutet auch, das ich morgen etwas früher an der Bushaltestelle nach León sein werde, und da die Busse hier nicht allzu häufig fahren ist das sicher nicht von Nachteil.
Die nächste Herberge verfügt nur über 28 Betten, und allmählich füllt sich die Bar mit teils bekannten Gesichtern, also mache ich mich alsbald wieder auf den Weg. Um ca. 15:00 Uhr erreiche ich die Herberge in El Burgo Ranero und belege das 23. von den 28 Betten, wieder einmal Schwein gehabt! Die Herberge wird auf Spendenbasis betrieben und ist sauber und einladend!
Nach einer heißen Dusche nebst zugehöriger Pause begebe ich mich um 17:00 Uhr in das gegenüber liegende Restaurant. Hier treffe ich auf die Italienerin Giulia neben der ein Kerl aus Köln sitzt. Dieser Typ geht mir bereits nach wenigen Sekunden gehörig auf die Nerven. Er ist laut, schwatzt ohne Punkt und Komma, läßt niemanden zu Wort kommen, hält sich selber für den Größten und es ist offensichtlich, dass er auf Giulia Eindruck machen möchte.
Selbstverständlich wohnt er nicht in der Herberge, sondern in einem Zimmer hier im Restaurant. Die Herberge sei ja nur für normale Pilger. Aber er bietet Giulia einen Schlafplatz in seinem Zimmer an, den sie natürlich mit Nachdruck ablehnt! Ein Spitzname drängt sich förmlich auf, ich nenne in ab sofort Ballermännchen und er wird mir noch oft begegnen. Ich verabrede mich mit Giulia zum Abendessen und Ballermännchen kommt selbstverständlich ungefragt mit! Aber zuvor ist noch ein Nickerchen angesagt. Ballermännchen geht auf sein Zimmer, aber nach wenigen Schritten wendet er sich zu uns um, deutet auf sein T-Shirt und schreit lauthals "Das ist ein Siegerhemd"!
Am Abendtisch gesellt sich noch ein australisches Pärchen mit italienischer Abstammung zu uns. Ohne Ballermännchen wäre es ein schöner Abend geworden. Leider prahlt er den ganzen Abend pausenlos herum und belehrt alle Anwesenden. Dabei redet er unaufhörlich auf Giulia ein und betatscht ständig ihre Arme und Hände. Sie weiß ihn auf charmante Art zu händeln, ich hätte ihm längst eine geknallt.
Das australische Pärchen erzählt, dass sie in Roncesvalles gestartet sind. Der Weg ab St. Jean über die Pyrenäen wäre ihnen doch zu anstrengend gewesen. Ballermännchen belehrt sie, dass das eine Schwäche sei. Man müsste es nur wirklich wollen und dürfe nicht schwächeln. Das ist schlichtweg eine Unverschämtheit, denn die beiden sind weit über 60 Jahre alt, und sie vollbringen hier eine erstaunliche Leistung. Aber sie nehmen die Bemerkung gelassen hin, wenden sich jedoch mehr und mehr Giulia und mir zu.
Nach dem Abendessen verabreden Giulia und ich uns zum Shoppen in Mailand im kommenden Januar. Das wird Elke freuen! Wir tauschen unsere E-Mail Adressen aus und gehen bald ins Bett, schon um von Ballermännchen wegzukommen.
(Nachtrag: Das Treffen in Mailand hat tatsächlich stattgefunden.)