Eigentlich wollte ich in Anbetracht der heutigen Etappe um 6:00 Uhr aufbrechen. Da es gestern Abend jedoch so spät wurde, schaffe ich es erst um 7:10 Uhr, auf dem Camino zu sein. Der Weg führt durch eine wunderschöne Landschaft, leider wird der Genuss der Wanderung durch den einsetzenden Regen getrübt.
Kurz hinter Barbadelo hält ein Bus an einem etwas abseits stehenden Bauernhaus, wo sich auch eine kleine Bar befindet. Deutsche steigen aus, leider wieder einmal unterste Schublade. Sie pöbeln rum, fallen über die Bar her und lassen ihre leeren Dosen einfach da fallen, wo sie gerade stehen. Eine spanische Reisebegleiterin hat Mühe, sie zusammen zu bekommen. Dann erzählt sie in sehr gebrochenem Deutsch einen unglaublichen Scheiß! Sie möchte wissen, wer von den Reiseteilnehmern schon einmal in Rom gewesen sei. Zwei oder drei Leute heben die Hand. "Ob jemand die Kirche soundso kennen würde?" Niemand meldet sich.
"Nun, wie dem auch sei, diese Anlage sei nach dem gleichen Schema wie besagte Kirche gebaut." Sie deutet auf ein Nebengebäude. "Wenn das die Kirche sei", jetzt zeigt sie auf die Bar, "wäre die Bar das zugehörige Baptisterium!" Sie fügt noch das eine oder andere hinzu, aber eigentlich hört niemand zu. Wie hirnfrei können Menschen eigentlich werden? (Wahrscheinlich glaubt mir das jetzt niemand, aber ich schwöre, dass es der Wahrheit entspricht).
Ich gehe weiter, der Weg nach Ferreiros führt leicht bergan. Nach einigen Minuten überholen mich die Prolls gröhlend. Kunststück, sie gehen ja ganz ohne Gepäck. Dieses liegt sicher im Bus und der wartet nur etwa 4 km entfernt im nächsten Ort.
In Ferreiros ist eine Pause angesagt. In der Bar tummeln sich bereits die Busfahrer und drängeln sich um Tisch und Stempel, aber nach einer Weile verlassen sie den Schankraum, gehen zu ihrem Bus und Ruhe kehrt ein.
Weiter geht es nach Portomarin. Hier folge ich irreführenden Wegweisern, die einen in das Stadtzentrum, vorbei an allen Bars und Läden führen. Der eigentliche Camino umgeht die Ortschaft und man spart sicher 45 Minuten ärgerliche Latscherei. Ich mache aus der Not eine Tugend, und trinke ein Bier. Vor der Bar treffe ich eine ältere Dame aus Deutschland, und gemeinsam suchen wir den Weg aus der Stadt hinaus. Was für ein Unterschied zu dem Pöbel von vorhin! Sie trägt einen recht großen Rucksack, dazu eine Tüte für ihren Tagesbedarf und man sieht ihr an, dass ihr das Gehen schwer fällt. Sie geht langsam, aber stetig, jeden Tag so etwa 25 km. Auch empört sie sich über die teils pöbelhaften Reisegruppen, von denen ihr heute schon drei begegnet sind. Schön, dass nicht alle Deutsche hier so negativ drauf sind!
Gegen 16:00 Uhr befinde ich mich auf einem Hohlweg kurz vor Gonzar. Die meisten Pilger sind wohl schon in der Herberge, ich sehe weit und breit keinen Menschen. Hier kommt mir ein sehr großer, offensichtlich wilder Schäferhund entgegen. Der Anblick dieses verwilderten Tieres ist furchteinflößend und ich drücke mich soweit an den Wegesrand, wie es das Unterholz zulässt. Auch der Hund bleibt stehen und eine Weile - die mir wie eine Ewigkeit vorkommt - bewegt sich keiner von uns beiden. Dann verschwindet er im Unterholz auf der gegenüberliegenden Seite.
Mit zittrigen Knien gehe ich weiter und denke: "`Hoffentlich holt der jetzt nicht seine Kumpels"'. Etwa zwei oder drei Minuten später höre ich hinter mir ein Tapsen. Ich drehe mich um und erstarre erneut. Der große Hund nähert sich diesmal von hinten an! An dieser Stelle ist der Weg so schmal, dass er ein Ausweichen in das Unterholz diesmal nicht zuläßt. Ich drücke mich erneut an die Seite des Weges um dem Tier so viel Platz wie nur irgend möglich zu lassen und schaue in Richtung des Hundes, ohne ihm in die Augen zu starren. Reglos bleibe ich stehen, ebenso das Tier. Die Zeit steht still und jetzt habe ich richtig Angst! Plötzlich nimmt der Hund drei Sätze Anlauf und springt auf mich zu. Mir bleibt der Schrei im Hals stecken. Aber er hatte nicht mich zum Ziel, sondern wollte nur möglichst schnell an mir vorbei springen und von dannen rennen. Er hatte offenbar genausoviel Angst vor mir, wie ich vor ihm. Meine Beine zittern so, dass ich mich einige Minuten sammeln muss, bevor ich weiter gehen kann.
Zum Glück befindet sich nur wenige hundert Meter entfernt eine Bar. Bei einem Stückchen Kuchen, Tonic Water und Bitter Lemon beruhige ich mich wieder. Es fängt stark an zu regnen. Plötzlich stürzen John und Jenny in die Bar, die vor dem Regen Zuflucht suchen. Erfreut begrüßen wir uns, und sind froh im Trockenen zu sitzen, denn draußen geht jetzt ein heftiger Wolkenbruch nieder.
Ventas de Narón ist ein recht überschaubarer Ort mit einer kleinen Herberge und nur 18 Einwohnern, dazu ein paar Schafe, Ziege und Kühe. Aber es ist ein romantisches Plätzchen. In der Herberge und einzigem Restaurant treffe ich auf ein Mutter/Tochter-Gespann aus Bayern. Sie sitzen gemeinsam mit einem auffallend dicken Mann an einem Tisch und winken mich zu sich. Mehr Pilger sind heute nicht hier. Es gibt nur eine geringe Auswahl an Speisen, entweder Fleisch oder einen Fisch oder ein Brot mit Ei. Bis auf die Mutter nehmen alle das Fleisch, sie nimmt den Fisch.
Nun stellen wir uns gegenseitig vor. Als die Damen hören, dass ich aus Köln komme, werden sie plötzlich sehr einsilbig und das Gespräch stockt. Erst nach einer Weile wird klar warum. Sie halten mich für Ballermännchen, der ja ebenfalls aus Köln stammt. Diesem sind sie zwar noch nicht begegnet, aber sie haben schon so viel Negatives von ihm gehört, dass sie darauf auch keinen Wert legen. Der Typ ist eine echte Caminoplage geworden. Nachdem das geklärt ist, und ich von meinen Begegnungen mit ihm erzählt habe, unterhalten wir uns wieder prächtig.
Mein männlicher Tischnachbar ist richtig nett, aber unglaublich dick. Er spricht aber frei darüber und ist auf dem Camino, um hier abzunehmen. Stolz berichtet er von bereits verlorenen 34 kg Gewicht, und dass er jetzt nur noch ca. 260 kg (ja, richtig gelesen: zweihundertsechzig) wiegen würde. Er kann wegen seines Gewichtes nur kurze Etappen zurücklegen, oft nur 5 km, selten mehr als 10 km. Er arbeitet nicht, hat daher viel Zeit, will in ca. zwei Wochen in Santiago sein und danach den Weg bis Roncesvalles zurück gehen. Am Ende hofft er, so etwa 220 kg zu wiegen. Danach wäre wohl eine OP fällig, um überflüssige Haut zu beseitigen, was wohl weitere 10 kg bringt. Dann wiederholt er den Camino. Als Fernziel peilt er um die 100 kg an. Ich wünsche ihm viel Erfolg.
Das Essen wird gebracht und wir hauen hungrig rein. Plötzlich japst die Tochter nach Luft, und wechselt in wenigen Sekunden ihre Gesichtsfarbe von normal über rot nach grün. Sie hat eine extreme Fischallergie, und offensichtlich wurden Fleisch und Fisch in derselben Pfanne gebraten. Die Mutter bringt sie auf ihr Zimmer und kommt bald zurück. Dieser Vorfall ist für sie nicht neu, und in einer halben Stunde wäre alles wieder in Ordnung.
Kurz darauf liege ich in meinem Schlafsack und lasse den Tag Revue passieren. Es war ein richtig toller Tag. Die Wanderung war zwar lang und anstrengend, aber die Landschaft sehr schön. Die Herberge ist richtig nett, der Ort hier romantisch und auch das Abendessen war in Ordnung. Dazu die nette Tischgesellschaft. Und dann war da noch die dramatische Begegnung mit dem Hund!
Anders als gestern wünsche ich mir plötzlich, Santiago wäre noch weit entfernt, und das Ende meiner Wanderung noch nicht in Sicht!