Sonntag, 20. April 2008
Gegen 6:00 Uhr wache ich auf. Ich habe sehr gut geschlafen. Von den acht Betten sind lediglich vier belegt und es war kein Schnarcher unter den Schläfern. Ich überlege aufzustehen. Immerhin habe ich heute eine schwierige - vielleicht die anstrengendste Etappe der Reise - vor mir, denn neben der Länge und dem Höhenunterschied ist es eben die erste Etappe überhaupt und ich bin ja nicht wirklich trainiert.
Allerdings bewegen sich die anderen Pilger keinen Millimeter, und ich möchte sie nicht wecken. Den Rucksack leise zu packen wäre unmöglich, da das Zimmer doch recht eng ist und die Betten ganz nahe beisammen stehen. Also döse ich noch ein wenig und wälze mich hin und her. Um 7:00 Uhr werde ich allmählich ungeduldig, aber niemand regt sich. 7:15 Uhr, es reicht! Genug der Rücksicht! Ich stehe auf. 6:00 Uhr ist eine christliche Pilgerzeit, nicht 8:00 Uhr! Ein Hotel ist schräg gegenüber, wer lange schlafen will, möge dort übernachten. Ich gehe ins Bad, um mich zu waschen.
Als ich kurz darauf in das Zimmer zurückkomme, sind auch alle anderen aufgestanden und bereit zum Aufbruch. Zwei von ihnen verlassen vor mir - ungewaschen - die Herberge. Spinner! So sieht also das Wettrennen um die besten Bettenplätze aus, aber da mache ich keinesfalls mit, weil ...
- erstens: ... alle Unterkünfte vermutlich ähnlich sind.
- zweitens: ... es Spaß machen soll!
- drittens: ... ich mir notfalls eben ein Zimmer nehme, und somit
- viertens: ... ich eine stressfreie Reise haben werde.
- fünftens: ... so viele Pilger zur Zeit offenbar nicht unterwegs sind.
Gegen 7:30 Uhr verlasse dann auch ich die Herberge - ohne Frühstück, aber das ist kein Problem - und laufe erst einmal in die falsche Richtung. Bis ich es bemerke, vergehen 15 Minuten. Na prima, mein Camino fängt ja gut an. Das Verlaufen kostet mich etwa eine halbe Stunde und zwei weitere Kilometer, und das, wo der erste Tag ohnehin hart werden wird. Kurz nach 8:00 Uhr bin ich dann auf dem richtigen Weg und schreite optimistisch aus.
Gleich hinter Saint-Jean steigt der Weg sehr steil an, und ich überhole vielleicht 800m hinter dem Stadttor eine maßlos fette und dementsprechend keuchende Frau. Nach jeweils zwei oder drei kleinen Schritten bleibt sie kurz, nach Atem ringend stehen. Auch sie will ernsthaft die Route Napoléon gehen. Das ist absolut unvernünftig und außerdem völlig illusorisch. In ihrem Schneckentempo hat sie keine Chance auch nur bis Orisson zu kommen. Aber ihr langsames Tempo hat auch sein Gutes. So haben die Rettungskräfte später nur einen kurzen Anfahrtsweg, und können sie schnell ins Krankenhaus zu den beiden Pilgerinnen von gestern aufs Zimmer bringen. Warum nur tun sich manche Menschen so etwas an?
Kurz darauf überholt mich ein - ich schätze mal 70 jähriger - Mann zügigen Schrittes. Er will nach Roncesvalles um dort etwas abzuholen. Einige Stunden später werde ich ihn wieder treffen. Er wird dann auf dem Rückweg nach Saint-Jean sein. Zwar hat er kein Gepäck dabei, aber dennoch ist das eine bemerkenswerte Leistung.
Der Weg zum Refugium Orisson ist beeindruckend, aber überaus anstrengend. Ich überlege ernsthaft, dort zu übernachten und die Etappe nach Roncesvalles auf zwei Tage zu verteilen. Um 10:20 Uhr erreiche ich erschöpft dieses Gasthaus und trinke meinen ersten von den ungezählten café con leche dieser Reise. Nach dieser Erfrischung und einem Schwatz mit zwei Pilgern aus Irland sind die Lebensgeister wieder geweckt, und gestärkt verlasse ich eine halbe Stunde später das kleine, gemütliche Restaurant.
Gegen 12:00 Uhr erreiche ich die Vierge de Biakorri. Diese kleine Marienstatue etwas abseits vom Weg wird leicht übersehen, und markiert den Punkt, an dem im Mittelalter einst ein Pilgerhospital stand. Die ganze Zeit steigt der Weg extrem steil an, mein Optimismus von heute morgen ist längst verflogen und ich benötige erst einmal eine Pause. Daher setze ich mich auf einen Stein und esse ein Brot und ein Ei. Mehr kann ich vor Erschöpfung nicht zu mir nehmen.
Ernsthaft ziehe ich in Erwägung nach Orisson zurückzugehen. Immerhin geht es dann nur bergab, während der Weg nach Roncesvalles weiter ansteigt. Zudem habe ich bisher höchstens die Hälfte der heutigen Entfernung geschafft. Der Gedanke, dass ich es mit dieser Einstellung nicht bis Santiago schaffen werde, drängt sich auf. Also weiter!
Entschlossen trinke ich aus einer meiner beiden Wasserflaschen einen kräftigen Schluck und schütte den Rest des Inhaltes aus. Ich habe ja noch eine zweite Trinkflasche. Brot, Ei und das Wasser machen zusammen sicher 1,2 Kilo aus, die jetzt nicht mehr an meinen Schultern zerren. Zudem packe ich eine Tüte Lakritze aus meinem Rucksack in meine Jackentasche. Weitere 200gr, die nicht auf die Schultern drücken. Diese neue Gewichtsverteilung spüre ich deutlich - das bilde ich mir vielleicht auch nur ein -, und ich setze meinen Weg etwas erleichtert durch das weite Weideland, vorbei an langhaarigen Manech-Schafen fort.
Überhaupt ist der Rucksack das größte Problem. Ständig verstelle ich die Riemen, aber wie ich ihn auch einstelle, unerbittlich zerrt er an den Schultern und diese schmerzen jetzt heftig.
Der Weg ist weiterhin sehr steil. Gott sei Dank ist der Himmel bewölkt und das Wetter trocken. Im Sommer hätte ich das hier nie geschafft, ebenso wenig wie ohne die - wenngleich nur geringe - Vorbereitung. An einer besonders steilen Stelle futtere ich einige Stücke Lakritze und stelle fest: Gummibärchen streicheln die Seele, machen aber auch durstig.
Nach einer Weile zweigt der Weg von der befestigten Straße ab, und führt über leicht matschige Wiesen steil aufwärts. Um 13:45 Uhr erreiche ich die Rolandsquelle. Hier treffe ich zwei weitere Pilger. Da noch ein gutes Stück des Weges vor mir liegt, gönne ich mir nur eine kurze Rast. Zudem fällt mir das Weitergehen umso schwerer, je länger ich pausiere.
Kurz darauf überquere ich die Grenze der Region Navarra und befinde mich nun in Spanien. Über völlig matschige Wege geht es weiter, und hier sehe ich auch die Schneemassen, vor denen wir so nachdrücklich gewarnt wurden. Völlig fertig und mit stark schmerzenden Schultern erreiche ich kurz nach 15:00 Uhr eine Weggabelung. Für den Abstieg nach Roncesvalles bieten sich ab hier zwei Möglichkeiten an. Ein etwas längerer Weg führt weniger steil zur Herberge, ein sehr steiler Weg geht quer durch den Wald, ist dafür aber sehr viel kürzer.
Ich entscheide mich für den kurzen Weg und bereue das kurz darauf sehr. Der Weg ist kein solcher, sondern nur ein Pfad zwischen den Bäumen. Er ist extrem steil und nach kurzer Zeit schmerzen die Füße. Ein wenig später zittern meine Beine vor Erschöpfung, und ich komme nur noch sehr langsam voran. Jeder Schritt ist sehr kraftraubend und muss bewusst gesetzt werden, da ein Stolpern
das Ende der Reise bedeuten könnte, und Stolpern ist hier mehr als wahrscheinlich.
Am unteren Ende des Waldes angekommen, kann ich mich kaum noch auf meinen Beinen halten. Laut Reiseführer sollte der Abstieg etwa 30 Minuten dauern, ich habe weit mehr als eine Stunde dafür benötigt. Für den letzten Kilometer bis zur Herberge in Roncesvalles brauche ich - obwohl es sich um einen breiteren und geraden Waldweg handelt - sage und schreibe 45 Minuten. Meine Beine wollen mir nicht mehr gehorchen und mein Gang ist nur noch ein gequältes Humpeln. Ich erreiche die Ortschaft so gerade eben und schleppe mich in ein Hotel an eine kleine Bar. Um den Rucksack abzuschnallen, fehlt mir im Moment schlichtweg die Kraft, und ich setze mich einfach mit ihm auf eine Bank. Das quer durch den Raum bestellte Bier schmeckt unbeschreiblich gut! Auch bestelle ich schon mal das Pilgermahl für heute Abend, welches hier im Hotel serviert wird.
Während ich so da sitze - eher liege - und mein Bierchen schlürfe, betritt ein deutsches Pärchen die Rezeption des Hotels. Die Frau will einen Stempel in ihren Credencial, den gibt es aber nebenan im Kloster. Die Spanierin versucht mit einer Engelsgeduld das der Frau mit Händen und Füßen begreiflich zu machen. In Spanien wird eben Spanisch gesprochen und Ende! Die deutsche Frau gibt sich jedoch nicht die kleinste Mühe die Spanierin zu verstehen, und schreit sie am Ende sehr unhöflich und lautstark an. Nach sicher fünf Minuten wüster Schimpferei hat die Spanierin genug und drückt dem zeternden Widerling einen beliebigen Stempel des Hotels - vielleicht "`Rechnung bezahlt"' oder etwas ähnliches - in ihren Pilgerpaß, worauf die Frau siegessicher abzieht.
Nachdem ich fast eine Stunde einfach nur gesessen habe, raffe ich mich auf. Schließlich muß ich mein Bett bekommen. Der erste Schritt tut höllisch weh, jeder weitere dann nur noch ziemlich. Meine Füße brennen, aber nicht so schlimm wie meine Schultern! Ich schleppe mich zur Unterkunft. Dort schickt man mich erst mal zurück ins Kloster. Dort wäre die Anmeldung. Aber meinen Rucksack darf ich schon mal hier lassen. Auch ohne die 16 Kilo könnte ich bei jedem Schritt laut aufschreien. In der Anmeldung bekomme ich den ersten richtigen Stempel in meinen Credencial gedrückt. Spontan wird mir dieses Stückchen dünne Pappe wichtig, und ich beschließe, ihn mit meinem Portemonnaie, Kreditkarte und Ausweisen besonders sorgfältig aufzubewahren. Ein Verlust wäre fatal! Ich gehe zurück zur Herberge - und bemerke, dass ich kein Bett gebucht habe. Das habe ich vor Erschöpfung und über den Stempel schlichtweg vergessen. Also humpele ich auf halbem Weg wieder zurück zur Anmeldung und bezahle das Lager.
Der Schlafraum ist riesig, aber die hohen Steinwände und der hölzerne Dachstuhl mit den großen Leuchtern verleihen ihm eine besondere Atmosphäre. Drei lange Reihen Betten stehen für die Pilger bereit, die hintere Reihe ist für Männer, die mittlere Reihe für Paare und die vordere Reihe für Frauen vorgesehen. Ganz hinten in der Ecke finde ich ein freies Bett und bin tatsächlich halbwegs ungestört. Es handelt sich - wie meistens in den Herbergen - um Doppelstockbetten. Da ich gerne oben liege, die meisten Pilger offenbar aber nicht, ist es nie ein Problem eine freie Matratze in der oberen Etage zu bekommen.
Das untere Bett ist schon besetzt und ein Mann liegt offenbar schlafend darin. Vorsichtig stelle ich meinen Rucksack auf den Boden, und krame leise Schlafsack und Duschsachen heraus. Das geht nun mal prinzipiell nicht geräuschlos. Durch das Zippen der Reißverschlüsse gestört, dreht sich der Mann plötzlich um, schreit mich auf Deutsch an, ob ich denn die ganze Nacht hier herumkramen möchte. Zum einen ist es nicht Nacht und woher zum Teufel will er eigentlich wissen, dass ich Deutsch spreche? Er geht einfach davon aus, verstanden zu werden, und so treffe ich - nach der Frau von vorhin - den zweiten unangenehmen Landsmann auf dem Jakobsweg. Höflich weise ich ihn darauf hin, dass das Hotel nur 200m entfernt ist und gehe, nein, quäle mich zur Dusche.
Hier treffe ich auf Widerling Nummer drei. Alle Duschen sind besetzt, nur eine ist frei, da hier die Türe nur angelehnt, aber nicht abgeschlossen ist. Ich öffne die Türe und werde erneut angeschrien, und wiederum auf Deutsch. Ob ich denn keine Augen im Kopf hätte? Klar habe ich die, deshalb habe ich ja auch diese unverschlossene Türe geöffnet. Der Mann verkündet jetzt lautstark, dass hier in dieser versifften Bude alle Schlösser defekt seien. Nun ja, da die anderen Duschtüren verschlossen sind, können folglich nicht alle Schlössser hin sein, und versifft ist es hier ganz sicher auch nicht. Da ich später die gleiche Dusche benutze, weiß ich, dass das Schloss einwandfrei funktioniert, der Typ war nur zu dämlich abzuschließen. Und was für eine Arroganz hier in Spanien grundsätzlich deutsch zu sprechen und zu erwarten, dass man verstanden wird.
Die Dusche ist knallheiß, ungemein wohltuend und lebensspendend, und ich komme erfrischt zu meinem Pilgerbettchen zurück. Der Typ unter mir ist umgezogen (ins Hotel?), Gott sei Dank! Ich creme und massiere meine Füße mit Voltaren. Während ich sie so reibe, lasse ich den Tag Revue passieren. Ich bin heute durch eine grandiose Landschaft gewandert, allerdings habe ich sie nicht genießen können. Der Weg war einfach zu anstrengend, die Astrengung für den ersten Tag zu groß. Der ganze Körper schmerzt und ich bezweifle, ob ich morgen überhaupt weitergehen kann. Da mir jetzt kalt ist, krieche ich in meinen Schlafsack und versuche zu schlafen. Weil mir wirklich alles weh tut, gelingt das nicht, und so liege ich nur einfach da. Nach einer ausgiebigen Ruhephase begebe ich mich schließlich ins Hotel und somit zu meinem ersten Pilgermenu. Am liebsten würde ich ja einfach liegen bleiben, aber wenn ich jetzt nichts esse, kann ich morgen meinen Camino ganz sicher nicht fortsetzen!
Glaube ich meinem Reiseführer, gibt es hier seit Jahren jeden Tag Fish'n'Chips und Joghurt, dazu Wein und Wasser. So auch heute. Das Essen ist unspektakulär, aber in Ordnung. An meinem Tisch sitzen zwei - diesmal sehr nette - Deutsche, vier Norweger, ein Holländer und ein Italiener. Irgendwie sind jedoch alle recht erschöpft und es kommt nur ein belangloser Dialog zustande.
Gleich nach dem Essen humpele ich in den Schlafsaal. Mir ist schon den ganzen Abend nicht warm, aber auf diesen wenigen Schritten bekomme ich einen derartigen Schüttelfrost, dass ich nicht mehr weiter gehen kann und mich für kurze Zeit gegen eine Mauer lehnen muss. Spätestens jetzt ist klar, dass ich mir heute wesentlich zu viel zugemutet habe.
Um 20:50 Uhr liege ich im Bett. Zwischenzeitlich hat es angefangen zu regnen und leider tropft es ein wenig durch das Dach. Nur einige Tropfen, aber diese veranlassen mich, eine Etage tiefer zu ziehen. Im Schlafsack legt sich auch der Schüttelfrost und ich falle schließlich in einen komatösen Schlaf.
Morgen wird um 6:30 Uhr geweckt - Gute Nacht!