Um 7:45 Uhr bin ich bereit zum Abmarsch und will die Herberge schon verlassen, als mich jemand fragt, ob ich denn nicht etwas frühstücken möchte. Ach ja, ich hatte ganz vergessen, dass hier ein kleines Frühstück angeboten wird. So früh am Morgen habe ich jedoch noch keinen Appetit. Ich trinke also lediglich einen café con leche - der geht immer -, schwatze noch ein wenig mit den Leuten von gestern Abend und verlasse schließlich etwa eine halbe Stunde später Herberge und Ort über die hübsche Brücke Puenta la Reina.
Die Sonne scheint, aber nicht zu heiß, die Luft ist frisch und ich komme richtig gut voran. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass ich doch die komplette Strecke schaffen könnte und in meinem Geist taucht schon der Strand von Finisterre auf. Meine Füße schmerzen zwar - insbesondere abends - und das wird sich auch während der ganzen Pilgerzeit nicht ändern, aber ich habe immer noch keine Blasen oder sonstige Wundstellen. Froh gelaunt wandere ich durch Weinfelder und Feldwege, an deren Wegesrand zahllose Schnecken auf kleine Büsche klettern.
Schon bald erreiche ich Cirauqui, Zeit für eine Frühstückspause. Die einzige Bar ist voller Pilger und bietet nur Automatenkaffee. Ich verzichte und gehe weiter durch dieses mittelalterlich anmutende Städtchen. Vor einer Mauer finde ich eine Bank und frühstücke die wenigen Lebensmittel, die mein Rucksack hergibt.
Ganz in der Nähe muss ein Wespennest sein, das Summen ist unverkennbar. Während ich kauend dasitze und mein Tagebuch schreibe, ziehen nach und nach die Pilger aus der Bar an mir vorbei. Endlich entdecke ich auch das Wespennest. Es ist die Mauer selbst. Sie ist voller kleiner Löcher, in denen die Wespen leben.
Nächster Stopp ist in Lorca. Von meinem morgendlichen Schwung ist nicht mehr viel übrig und auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: meine Füße tun SAUWEH! Allerdings entschädigt die wunderschöne Landschaft für jeden schmerzhaften Schritt.
Auf der Hauptstraße finde ich eine Bar und belege die davor befindliche Bank. Für die Siesta mit einem cerveza und einem café con leche nehme ich mir über eine Stunde Zeit. Pilger kommen und gehen, einigen von ihnen bin ich bereits auf dem Camino begegnet. Hier treffe ich das erste Mal auf Domenico, ein netter Italiener in Begleitung von Stefan und Peter, zwei ebenso nette Deutsche.
In Estella, dem Ziel meiner heutigen Etappe, wollte ich eigentlich in der kleineren Herberge übernachten. Ich bin allerdings wieder einmal derart mit meinen Kräften am Ende, dass ich kurzerhand in die näherliegende, sich am Ortseingang befindliche städtische Herberge gehe. Sie ist einfach, aber ordentlich und ich kann morgen sogar ein Frühstück bekommen.
Vor der Herberge treffe ich auf meine Muschelfee und den Kanadier. Offensichtlich pilgern die beiden jetzt gemeinsam. Auch Peter, Stefan und Domenico stehen am Eingang, wollen aber in der kleinen Herberge übernachten. Ich überlege kurz, sie doch zu begleiten, bin aber einfach zu erschöpft. Also trennen sich unsere Wege vorerst und ich strecke mich zuerst einmal auf mein Nachtlager.
Heute war ein sehr schöner Wandertag, anstrengend zwar, aber ich habe das erste Mal nach einer Tagestour keinen Schüttelfrost.
Nach der ausgiebigen Siesta habe ich - erstmalig nach einer Tagesetappe - noch ein wenig Kraft, verspüre etwas Lust mich zu bewegen und begebe mich infolgedessen in die kleine Stadt. Ohne den Rucksack geht es sich doch erheblich leichter! Bei einem Glas Bier lasse ich in der Altstadt die Seele baumeln. Anschließend besichtige ich eine hübsche, aber außerordentlich renovierungsbedürftige Kirche. An vielen Stellen ist die Decke ganz feucht.
Kaum befinde ich mich im Inneren dieses Gotteshauses, beginnt eine Messe. Zumindestens in dieser Kirche nehmen die Spanier sehr viel mehr Anteil an dem Geschehen als bei uns. Eigentlich will ich weitergehen, da das Stehen auf einer Stelle sehr schmerzhaft ist. Meine Füße brennen wie Feuer und schreien nach Entlastung. Aber jetzt die Kirche zu verlassen ist unmöglich, das Öffnen der massiven Türe würde die Messe zu sehr stören. Aber ich setze mich in eine Ecke so halb auf den Fuß einer Säule. So läßt es sich aushalten. Eine Pilgerin raunt mir zu, dass wir im Laufe der Messe einen Pilgersegen bekommen. Dieser geht allerdings im unglaublich schnellen Redefluss des Priesters unter. Er hätte ja zumindest die Pilger mal kurz anschauen können. Zeremonien haben hier offenbar einen größeren Stellenwert als ich es von unserer Kirche gewohnt bin. Die Monstranz spielt eine zentrale Rolle und der Priester wechselt zwischendurch die Kleidung.
Endlich ist die Messe beendet und ich verabschiede mich von der Pilgerin. Sie heißt Maria und ich werde sie auf meiner Wanderung noch häufig treffen. Ich begebe mich in das Restaurant, in dem es das Pilgermenu gibt. Es ist klein und widerlich schmutzig. Hier möchte ich nichts essen, also gehe ich weiter in Richtung des kleinen Hauptplatzes auf der Suche nach einem anderen Restaurant.
Ich treffe Domenico, Stefan und Peter. Im Schlepptau haben sie Gary, einen Kanadier, und ich schließe mich ihnen an. Sie wollen im besten Restaurant am Platz speisen. In luxuriöser Atmosphäre, verwöhnt von einer freundlichen Bedienung verbringen wir einen sehr schönen Abend. Wir trinken und essen was rein geht und zahlen doch nur gut zwanzig Euro. Die Zeit verfliegt bei ernsten Gesprächen und vielen Lachern wie im Fluge und ich muss mich beeilen, noch in die Herberge zu kommen. Diese schließt um 22:00 Uhr - pünktlich! Da Gary in derselben Herberge übernachtet, rennen wir gemeinsam durch die Stadt und durchschreiten wohlgenährt und müde um 21:58 Uhr die Pforten der Herberge.