Das Licht ist aus und es ist stockdunkel. Es gelingt mir nicht, festzustellen, welches die linke und welches die rechte Socke ist. Das ist aber wichtig, da es sich um spezielle Wandersocken handelt, die für den linken bzw. rechten Fuß unterschiedlich geschnitten sind. Nach einer Weile gebe ich die blinde Tasterei auf und gehe mit meinen Klamotten ins Bad. Dort kann ich das Licht einschalten und mich in Ruhe anziehen und waschen. Anschließend raffe ich meine Sachen so leise wie möglich zusammen und packe meinen Rucksack in einem winzigen Vorraum außerhalb des Schlafsaals am oberen Ende einer steilen Wendeltreppe. Hoffentlich habe ich in der Dunkelheit nichts zurück gelassen.
Die Wanderungen in der Morgendämmerung sind immer großartig! Meine deprimierte Stimmung von gestern ist verflogen und ich erreiche um 9:20Uhr Rabé de las Calzadas. Hier sollte es eine Bar geben, leider Fehlanzeige. Also esse ich meinen letzten Apfel und breche nach einer zwanzigminütigen Pause nach Hornillos del Camino auf. Hoffentlich bekomme ich dort einen Kaffee!
Zu meinem Bedauern werde ich auch dort enttäuscht. Es gibt nur eine kleine Bar mit einem Kaffeeautomaten. Diesen eher üblen Kaffee möchte ich nicht trinken, außerdem ist es zwischenzeitlich richtig heiß geworden und so gönne ich mir eine kühle, aber auch recht süße Orangenlimonade. Diese vertrage ich allerdings nicht gut. Mir wird übel und erst nach einer Stunde langsamen Wanderns hat sich mein Magen wieder leidlich beruhigt.
Die Hitze nimmt zu, ich benötige wirklich dringendst einen neuen Hut. Andernfalls droht der Sonnenstich. In Ermangelung eines Sonnenschutzes knöpfe ich also die Mütze meiner Windjacke ab und stülpe sie mir auf den Kopf. Das sieht merkwürdig aus und die Pilger, denen ich begegne, können sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Aber es schützt vor den Sonnenstrahlen, wenngleich die Hitze unter der Kappe unerträglich ist und ich sie immer wieder mal kurz zum Lüften abnehme.
Ich überhole die Frau, welche gestern in Burgos so enttäuscht vor der Herberge stand. Nun erfahre ich ihren Namen - Giulia - und das sie letztes Jahr von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Burgos gegangen ist. Dieses Jahr will sie von Burgos nach Santiago, den zweiten Teil ihrer Reise gehen, ist also in Burgos gestartet. Später überholt sie mich. Sie fliegt nur so über den Camino und ihre Bewegungen sind sehr elegant.
Vor Hontanas überholt mich Katja. Sie wandert deutlich schneller als ich und ist bald wieder entschwunden, aber die wenigen Minuten gemeinsamen Wanderns waren nett und haben mich von meinen übel schmerzenden Füßen abgelenkt.
Jetzt geht es an die letzten 3km bis Hontanas und die sind die Hölle. Die Sonne knallt, es ist extrem heiß, meine Füße treiben mir wieder einmal Tränen in die Augen und alle paar Meter muss ich kurz stehen bleiben. Etwa 45 Minuten vor Hontanas überhole ich Giulia erneut. Sie humpelt jetzt noch langsamer als ich durch die brütende Hitze und ihre Eleganz von heute Morgen ist dahin.
Ich brauche über eine Stunde für etwa 2 km bis zu einem Schild mit der Aufschrift Hontanas - 500m. Der Name leitet sich von fontanas ab, einem Brunnen bei der Kirche, dessen Wasser sehr gesund sein soll. In diesem Ort gab es im 12. Jh. auch eine Leprastation. Davon ist allerdings weit und breit nichts zu sehen. Ich war vorgewarnt, aber wollte nicht glauben, dass sich ein Ort so gut verstecken kann. Völlig erschöpft stehe ich mitten in der Meseta - nein, es ist doch deren der Anfang, die Mitte erreiche ich ja erst in zwei oder drei Tagen - und glaube, ich habe mich verlaufen. Aber da ist doch das Schild??? Also schleppe ich mich weiter, 400m, 300m - noch immer ist kein Ort zu sehen. Erst 200m vor der Ortschaft erkennt man die Senke, in welcher sich dieser Ort verbirgt!
Ich begebe mich zur ersten von zwei oder drei Herbergen in diesem Ort und bekomme eines der letzten freien Betten. Damit hatte ich schon nicht mehr gerechnet, da mich in der letzten Stunde doch zahlreiche Pilger überholt hatten. Eine halbe Stunde später erreicht auch Giulia die Herberge.
Um mein Tagebuch zu schreiben, setze ich mich an einen Tisch auf dem einzigen, kleinen Platz vor der Kirche, zwischen der Bar und einem weiteren Restaurant. Etwa 33km bin ich heute mit meinem ungefähr 18kg schweren Rucksack - beide Wasserflaschen waren gefüllt - durch brütende Hitze, über eintönige Asphaltstraßen sowie steinige Schotter- und Feldwege gelaufen. Das wird jetzt wohl einige Tage so weiter gehen und ich bin mir nicht sicher, ob ich die morgige Tour von über 30km schaffen kann. Jedenfalls werde ich heute sehr früh zu Abend essen und zeitig zu Bett gehen. Einschlafen könnte ich schon jetzt.
Der kleine, zentrale Platz ist voller Pilger, sicher 50 Personen und ich höre die unterschiedlichsten Sprachen. Der Weg wird offensichtlich voller. Eine deutsche Gruppe hat gleich mehrere Tische in der Nähe belegt und wie üblich unterhalten sich die Gruppenmitglieder nicht nur miteinander, sondern lautstark gleich den ganzen Platz.
Ich gehe in die Herberge - dort wird auch eine kleine Bar betrieben - und hole mir ein Bier. Auf der Theke steht ein Honigkuchen. Für einige Cent bekomme ich ein riesiges und sehr leckeres Stück. Während ich esse und trinke, setzt sich Gary an meinen Tisch. Von ihm erfahre ich, dass Stefan in Burgos zwei Wanderstöcke kaufen wollte und daher erst spät loskam. Wo er übernachtet, weiß Gary nicht, sicher aber kommt Stefan heute nicht nach Hontanas.
Zurück auf dem kleinen Platz erlebe ich den Tiefpunkt deutscher Pilgerkultur! Da mein Tisch von vorhin besetzt ist, nehme ich den einzig freien Platz gleich neben den lauten Tischen der deutschen Pilger. Pilger??? Ohne lauschen zu müssen, erfahre ich Einzelheiten über ihre nächsten Etappen. Morgen sind es 2,5km, übermorgen 2km in der Früh und 1,3km am Nachmittag. Offensichtlich fahren sie mit dem Bus so nah wie möglich an die jeweils nächste Stempelstelle und gehen dann das Notwendigste zu Fuß. Heute zum Beispiel müssen sie sich mit ihrem Kuchen beeilen, da der Bus bald losfährt und dieser wartet ganze 700! Meter entfernt. Ihre heutige Tagesleistung von stolzen 1,4km - vom Bus hierher UND zurück - finden sie durchaus diskussionswürdig! Eine Dame bemerkt ernsthaft, dass sie in Santiago wohl ein Taxi nehmen werde. Ansonsten müsste sie ja dort etwa 3km weit bis zur Kathedrale gehen, dass wäre dann doch etwas übertrieben!
Ich kann verstehen, dass jemand, der schlecht zu Fuß ist, krank ist oder ein sonstiges Gebrechen hat, den Camino auf diese Weise bewältigt und finde das in einem solchen Falle auch sehr anerkennenswert. Bei diesen "Pilgern" jedoch handelt es sich durchweg um rüstige Menschen um die 50 Jahre.
Die Ausrüstung dieser "Pilger" ist im übrigen den außergewöhnlichen Belastungen durchaus angepasst. Teure, oftmals neue Rucksäcke, Wanderstöcke, festes Schuhwerk, hochwertige Outdoorbekleidung, erstklassiger Regenschutz, mehrere Wasserflaschen und so weiter - bei diesen extremen Höchstleistungen sicher ein Muss!
Ich würde mich schämen, mir auf diese Weise einen Credencial zu erschwindeln. Und meine Füße stimmen mir zu. Das ist eindeutig nicht der Sinn des Caminos! Nicht nur, dass sie lautstark alle Tische belegen, sie fotografieren wie wild ankommende, erschöpfte Pilger, die sich obendrein nicht mal setzen können, da kein freier Stuhl zur Verfügung steht. Und einen Platz bietet keiner dieser Buspilger an!
Da ich sehr erschöpft bin, gehe ich in mein Bett und lege mich ein paar Minuten hin. Hier treffe ich das erste Mal auf Ina. Auch sie schimpft über die Busfahrer. Während sie die Stille suchend neben der Kirche saß, wurde sie von ihnen belästigt. Sie wollten wissen, ob sie eine echte Pilgerin wäre und ob sie Ina einmal anfassen dürften! Das bringe schließlich Glück! Susanne weiß von ähnlichen Erfahrungen mit dieser Gruppe zu berichten. Da wir jedoch alle recht müde sind, ist die Unterhaltung nur kurz. Ina hat einen Tisch im gegenüberliegenden Restaurant bestellt, aber Susanne möchte sich abends zu Gary und mir setzen und die Unterhaltung fortführen. Jetzt jedoch wird erst einmal gedöst!
Zum Essen sitzt Susanne dann doch an einem anderen Tisch, dafür gesellt sich Thomas aus Hamburg zu uns. Das Gespräch dreht sich zunächst um diese Busfahrer. Ich merke an, dass ich mich auch nicht für einen echten Pilger halte und diesen historischen Weg gehe, um Land und Menschen kennen zu lernen - und um zu schauen, ob ich diese körperliche Herausforderung schaffen kann. Müsste ich den Weg abbrechen, weil ich zum Beispiel krank würde, mir ein Bein bräche oder einfach genug habe - immerhin habe ich mit dem Gedanken abzureisen schon mehrfach gespielt -, würde die Welt auch nicht untergehen. An dieser Stelle der Unterhaltung wird der sonst so ruhige Gary richtig energisch und schimpft. Falls das geschähe, würde ich das ganz sicher - und sei es erst in einigen Jahren - bitter bereuen. "Ich habe es nicht geschafft", würde ich mir stets vorhalten. Und die Tatsache, dass ich die Herausforderung suche - anders ausgedrückt mich erforsche -, zusammen mit dem Umstand, dass ich trotz einiger Zweifel eben nicht abgebrochen habe - also mit mir kämpfe -, würden mich zu einem größeren Pilger machen, als ich selber wahrhaben möchte!
Kurz vor dem Schlafen beginnt auf dem Zimmer eine sehr lebhafte Diskussion, ausgelöst durch einen schreienden Hahn und der scherzhaften Bemerkung eines Pilgers, dass wohl jemand Hühnchen zum Abendessen bestellt habe. Das Thema lautet jetzt "Schlachten und die Ehrfurcht vor dem getöteten Tier". Ina würde gerne einmal an einem Schlachtfest teilnehmen und ich berichte von meinen diesbezüglichen Erfahrungen aus Thüringen. Sie findet Schweine, Ferkel, Gänse und Rinder ja auch wirklich süß, aber wenn sie Hunger hat, dann hat sie eben Hunger. Das Thema wechselt vom "Schlachten" zu "allgemeine, gute Ernährung". Mir wird bewußt, wie wenig ich auf dem Camino esse, eigentlich nur abends. Nicht, dass ich fasten würde, ich esse, wenn ich Hunger habe. Offensichtlich hat mein Körper genügend Fettreserven, die allerdings nehmen - Hurra - spürbar ab!
Dann unterhalten wir uns über den "Camino" als Wanderweg und wie gut er ausgeschildert bzw. mit gelben Pfeilen Ina hat ihren Reiseführer verloren, den gelben, den auch ich als Ersatz mitführe. Seitdem pilgert sie eben ohne einen solchen und kommt gut zurecht. Nur die Informationen über die Herbergen vermisst sie. Da ich meinen gelben Führer noch nie benutzt habe, schenke ich ihr diesen. Für mich bedeutet das 300gr weniger Gepäck schleppen zu müssen, für sie eine große Freude. Sie ist ganz anders, als die Menschen, die ich hier sonst treffe. Eine besondere Aura umgibt sie. Einerseits sehr zurückhaltend ist sie doch offen und sehr direkt und sie lebt sehr bewusst und intensiv. Später werde ich den Hintergrund dafür erfahren, doch nun ist erst einmal Schlafen angesagt.