Es ist eine grauenhafte Nacht. So viel geschnarcht und geschmatzt wurde noch in keiner Herberge. Der Japaner unter mir war mit Abstand der lauteste. Zudem ist es in dem Zimmer unglaublich stickig, da eine ältere Dame darauf bestanden hatte, alle Fenster zu schließen. Sie würde sonst frieren und sich den Tod holen! Erst am frühen Morgen gelingt es mir, ein wenig einzunicken. Doch schon kurz darauf werde ich aus meinem flachen Schlummer gerissen. Die ersten Pilger stehen auf und gehen los. Allen voran die Schnarcher - die sind ja auch ausgeschlafen! Es hat keinen Sinn, um 6:20 Uhr stehe auch ich auf, und mache mich völlig gerädert daran, die wenigen, zur Nacht benötigten Ausrüstungsteile in meinen Rucksack zu packen.
Während ich meinen Schlafsack in den Rucksack stopfe, beklagt sich die Dame, die sich so vehement für die geschlossenen Fenster einsetzte, bei ihrer Pilgerfreundin, dass sie nicht gut geruht habe. Es wäre so warm gewesen, sie leide ja an heißen Füßen. Außerdem war die Luft ja so schlecht, warum eigentlich niemand ein Fenster geöffnet hätte? Wortlos verlasse ich den Schlafsaal, bevor etwas Schlimmeres geschieht!
Es gibt ein ähnliches Frühstück wie in der gestrigen Herberge. Bei mir am Tisch sitzt Ashley aus Amerika, die heute ihren Jakobsweg beginnt. Ein Junge und zwei Mädels aus Schweden setzen sich zu uns. Es sind die Musiker von gestern Abend, und das Gespräch kommt bald auf schwedische Volkstänze. Ich selber bin ebenfalls Mitglied in einer Tanzgruppe, und es ist erstaunlich, wieviele Tänze wir gemeinsam kennen. Die Geigenspielerin sitzt am Nachbartisch, und als sie unser Gesprächsthema aufschnappt, gesellt sie sich zu uns. Wir bedauern, dass wir uns erst jetzt kennen lernen. Wir hätten gestern abend so schön mit der Begleitung zweier Geigen tanzen können. Die beiden Schwedinnen sind richtig traurig, tanzen sie doch für ihr Leben gerne und wo immer sie sich gerade befinden. Da sie jedoch nur sehr kurze Etappen pilgern, so 10-12 km täglich, werden wir wohl keine Gelegenheit mehr bekommen, das nachzuholen. In Anbetracht meiner latent schmerzenden Füße, kann ich damit allerdings gut leben!
Ich breche auf und mache mich in einer wunderschöner Morgenstimmung an die Überquerung des Monte de León. Diese Gegend war früher wegen der hier hausenden Wölfe und Banditen sehr gefürchtet, ich bin jedoch guter Dinge, auch den heutigen Tag zu überleben.
Erstes Etappenziel ist das Cruz de Ferro. Dieses eiserne Kreuz erhebt sich über einen recht großen Steinhaufen, der aus den mitgebrachten Steinen zahlreicher Pilger gebildet wird. Einen Stein hier abzulegen ist ein Symbol für eine Entscheidung, einen Abschied, für das Ablegen einer Last oder für einen Neuanfang. Allerdings muss das hier abgelegte Objekt von zu Hause mitgebracht werden. Zahlreiche Fotos, Bänder, Zettel und natürlich die abgelegten Steine selber, dokumentieren das augenfällig. Leider liegen hier auch Mülltüten, alte Schuhe, leere Zigarettenschachteln, verostete Konservendosen und noch einiges mehr. Bei dem Kreuz handelt es sich um eine Kopie, das Original wird in einem Museum in Astorgaaufbewahrt.
An diesem Platz spüre ich intensiv, dass ich wirklich kein echter Pilger bin, und auch kein Anliegen habe. Auf mich wirkt dieser Platz ein wenig wie eine Müllhalde. Ich kraxel den kleinen Berg hoch und lege Ina's Stein ab. Das allerdings ist schon ein ergreifender Augenblick. Leider wird er durch eine Gruppe englischer Bustouristen massiv gestört, die sich gegenseitig und lautstark neben dem Kreuz fotografieren. Ich nehme noch einige Fotos für Ina auf, und verlasse dann diesen Steinhügel Richtung Manjarin.
Kurz darauf rufe ich Elke an. Sie ist traurig und macht sich krause Gedanken. Wir überlegen, ob sie schon ein paar Tage früher als geplant nach Santiago fliegen kann. So wie es aussieht, erreiche ich mein Ziel ja auch schneller als erwartet. Nach dem Telefonat ziehe ich weiter, es sind noch etwa 230 km bis Santiago...
Eine Weile später überholt mich Ashley und verschwindet am Horizont. Mir fällt ihr sehr tief hängender Rucksack ins Auge. Nach wenigen Kilometern hole ich sie wieder ein. Sie fummelt jetzt völlig verzweifelt an ihrem Rucksack herum. Er ist von ihrem Freund, und für sie viel zu groß. Zudem lassen sich die Riemen nur sehr schwer verstellen und sie hat einfach nicht genügend Kraft dafür. Jetzt sehe ich genauer hin, und bemerke, dass er ihr fast in den Kniekehlen hängt. Da der Weg ausgerechnet hier sehr beschwerlich und mit ein wenig Kletterei verbunden ist, verabreden wir uns in der ersten Bar in El Acebo, etwa 20 Minuten von hier entfernt, um nach ihrem Rucksack zu sehen.
Ich erreiche diese Bar lange vor ihr. Etwa 20 Minuten später betritt auch sie den Raum, und gemeinsam stellen wir nun ihren Rucksack ein. Das dauert mehrere café con leche. Dabei schneiden wir einige Riemen kürzer, versiegeln sie mit der Flamme eines Feuerzeugs gegen Ausfransen, und zwei Zusatztaschen fliegen in die nebenstehende Mülltonne. Jetzt ist der Rucksack zwar immer noch zu groß, aber sie trägt ihn nun halbwegs vernünftig auf ihrem Rücken. Wir unterhalten uns noch eine Weile, und ich erfahre, dass sie aus Washington, DC kommt. Sie ist auf dem Weg, eine Lehrerin zu werden, und wir unterhalten uns eine Weile über Bildungssysteme. Dann trennen sich unsere Wege, und da sie sehr viel kürzere Etappen als ich geplant hat, werde ich sie wohl auch nicht mehr wiedertreffen. Ich bin noch nicht lange wieder unterwegs, als ich zwei Pilger mit einem Esel überhole.
In Molinaseca führe ich bei zwei kleinen Flaschen Tonic Water Tagebuch. Sechs sehr laute Deutsche, um die 50 Jahre alt, setzen sich an den Nachbartisch. Sie sind rüpelhaft und stoßen zwei Gläser vom Tisch. Die Glasscherben lassen sie einfach liegen. Während sie rumpoltern, zitieren sie ständig aus Kerkelings Buch, den sie quasi als Reiseführer mit sich führen. Sie wollen wissen, ob ich es auch gelesen habe. Ich bejahe das, und frage meinerseits, ob sie auch seinen Hotelführer kennen würden. Sie sind verdutzt, nein, davon hätten sie noch nichts gehört. Das können sie auch nicht, denn den habe ich soeben erfunden. Ich erzähle ihnen jedoch, das darin alle Hotels und Gasthäuser - inklusive der wenigen Herbergen, in denen er übernachtete - aufgelistet sind, teilweise unter Angabe der Zimmernummer und natürlich einer Bewertungsskala. Er sei ganz neu, und ich hätte telefonisch ein Exemplar in Ponferrada bei einem Buchhändler reserviert. Sie springen zügig auf und rennen los, da sie versuchen wollen, noch heute eines zu bekommen. Naja, immerhin gehen sie zu Fuß!
Kurz darauf setzt sich Maria mit zwei österreichischen Begleitern an meinen Tisch. Offensichtlich pilgern die drei nun gemeinsam. Wir schwatzen ein wenig über dies und das, sie lachen über meine Geschichte mit dem Hotelführer, dann trennen sich unsere Wege wieder.
In Ponferrada - Verwaltungssitz des Landkreises El Bierzo und letzte größere Stadt bis Santiago - suche ich des Stempels und eines neuen Credencials wegen zunächst die örtliche Pilgerherberge auf. Diese ist sehr groß, fasst über zweihundert Menschen, und ich begrüße zahlreiche bekannte Gesichter. Die Räume wirken jedoch kalt und abstoßend. Außerdem benötige ich heute dringendst Schlaf, und an den ist hier nicht zu denken. Tatsächlich fühle ich mich ein wenig wie in Watte gepackt. Ich werde doch hoffentlich nicht krank werden? Also folge ich meinem Entschluss von gestern und suche mir ein Zimmer.
Dort angelangt schlafe ich erst einmal tief und fest. Dann treibt mich der Hunger vor die Türe, und ich esse eine mäßig gute Pizza. Hauptsache, ich bekomme mal etwas anderes als das tägliche Pilgermenu zwischen die Zähne, wobei letzteres vermutlich die bessere Wahl gewesen wäre!
Ich verbringe wieder einmal einen einsamen Abend, das Los des Zimmerschläfers. Es ist ein großes Plus der Herbergen, dass sich hier immer jemand findet, mit dem man sich unterhalten und über die Ereignisse des Tages reden kann. Schon bald bin ich wieder auf meinem Zimmer und telefoniere sehr ausführlich mit Elke. Im Anschluss daran setze ich übergangslos den dringend benötigten Schlaf fort.