Um 6:15 Uhr schalten meine Zimmergenossen das Licht an und reißen mich unsanft aus dem Schlaf. Insgesamt war die Nacht ruhig, wenngleich ich die Ohrenstöpsel als außerordentlich störend empfand. Aber sie haben mich dennoch nicht vom Schlafen abhalten können, dazu war ich wohl schlichtweg zu erschöpft.
Jetzt kramen und zetern die Italiener lautstark herum. Ich hätte keine Lust in solch einer Gruppe über den Camino zu latschen, sie wäre mir einfach zu groß. Es dauert etwa eine Stunde bis auch der Letzte seine Sachen zusammengepackt hat, dann verlassen sie die Herberge. Jetzt stehe auch ich auf, mache mich fertig und finde mich gegen 7:30 Uhr erneut auf dem Camino wieder.
Die Wanderung durch den jungen Morgen ist geradezu märchenhaft, die frische Luft kühl und unbeschreiblich wohltuend. Der Weg steigt leicht bergan und schon bald muss ich meine Jacke ausziehen. Nach etwa 90 Minuten raste ich auf einer Bank - mit einer wunderschönen Aussicht auf die Umgebung. Ich packe das Brot und den vorgestern bei der Herbergsmutter in Larrasoaña gekauften Käse aus. Die Käsescheiben sind einzeln in einer Folie eingepackt. Zusätzlich hat die Herbergsmutter ordentlich Tesafilm um jede einzelne Scheibe und um das gesamte Päckchen gewickelt. Sicher eine halbe Rolle! Wozu soll das wohl gut sein? Nur mit Hilfe meines Taschenmessers gelange ich an den Käse, und nach kurzer Zeit genieße ich kauend die Landschaft.
Leider pfeift der Wind über meinen idyllischen Rastplatz und obwohl ich meine Jacke wieder trage, kühle ich schnell aus und muss daher bald weitergehen. Da sich zwischenzeitlich dunkle Regenwolken aufgetürmt haben, ziehe ich vorausschauend auch den Regenschutz über den Rucksack.
Der Anstieg zum Alto de Perdón ist - wohl weil es recht kühl ist - nicht ganz so anstrengend, wie ich befürchtet habe, im Sommer bei 40° im Schatten stellt er sicher eine ganz andere Herausforderung dar. Oben angelangt mache ich eine kurze Pause und fotografiere das bekannte und skurrile Pilgerdenkmal. Hier treffe ich erneut Karin und so entsteht auch ein Bild, auf dem ich gleich neben einem Esel im Pilgerdenkmal stehe. Der Blick zurück auf Pamplona ist fantastisch, der Ausblick in das vor mir liegende Tal sogar noch großartiger, allerdings lässt er weitere Strapazen vermuten.
Jemand verteilt Handzettel mit der Adresse der neu eröffneten Herberge in Puente la Reina. Dort wollte ich in Anbetracht der vorhandenen Waschmaschine eh übernachten und so kommt mir die auf dem Flyer gezeichnete Wegbeschreibung sehr gelegen.
Hier auf diesem Pass ist es sehr zugig und kalt, daher steige ich schon bald in das vor mir liegende Tal nach Uterga ab. Dieser Abstieg ist sehr steil und steinig, meine Knie schmerzen und ich begreife erneut den Vorteil eines Pilgerstabes, den ich aber nicht mit mir führe. Der Weg selber ist recht steinig und bald sind auch meine Fußschmerzen wieder da. Zudem liegt der Weg jetzt windgeschützt und mir wird sehr warm! Dieser Berg trägt seinen Namen zu Recht: Berg der Läuterung.
Während des Abstieges sehe ich unzählige kleine Ameisenhaufen, und ich stelle mir vor, dass hier jede Ameisenfamilie in einer eigenen kleinen Kammer wohnt und gerade ihre Wohnung ausfegt.
Ich durchwandere jetzt den durch Landwirtschaft und Weinbau geprägten Teil Navarras. Völlig fertig erreiche ich Uterga. Für die Strecke habe ich wesentlich mehr Zeit benötigt als im Führer angegeben, aber was soll's.
Es gibt hier eine sehr schöne Bar, und diese ist gut mit Pilgern gefüllt. Leider befinden sich alle freien Stühle an Tischen, die in der prallen Sonne stehen. Egal, Hauptsache sitzen! Hier esse ich mein erstes Pilgerbrot, ein bocadillo con jamón, das heißt Baguette mit Schinken, dazu trinke ich wie üblich einen café con leche.
Da die Uhr mittlerweile eine schon fortgeschrittene Zeit anzeigt und ich heute nur eher langsam vorankomme, fällt die Pause recht kurz aus und ich mache mich auf nach Puente la Reina. Muscheln weisen den Weg aus der Stadt und der Camino hat mich wieder. Mittlerweile brennt die Sonne heftig, ich muss mir in der Tat schleunigst einen neuen Hut zulegen!
Wieder einmal total erschöpft, erreiche ich Puente la Reina. Ich krame den Handzettel hervor und folge der Wegbeschreibung. Diese führt mich irgendwo hin, aber nicht zur Herberge. Auf der Skizze stimmt nicht eine Entfernungsangabe und die Straßen verlaufen real in völlig anderen Winkeln als dieses Stück Papier weismachen will.
Längere Zeit irre ich im Ort herum, schmeiße schließlich den Wisch fort und frage nach dem Weg - auf Spanisch! Es geht, sehr holprig, aber es geht und ich bringe den Weg zur Herberge in Erfahrung. Leider liegt sie auf einem kleinen Berg. Am Anfang des Anstieges treffe ich Willi. Er fragt mich, ob dies der richtige Weg sei, ich bejahe die Frage und er rennt wie von der Tarantel gestochen los, bloß um vor mir die Herberge zu erreichen. Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen, denn der Weg ist extrem steil, die Sonne knallt irrsinnig, ich bin völlig fertig - daher langsam - und brauche für die zwei Kilometer etwa 45 Minuten. Allmählich gehen mir die Deutschen ein wenig auf die Nerven und ich fange an sie zu meiden.
Oben in der Herberge angekommen, kredenzt der Herbergsvater erst einmal ein großes Glas eiskaltes Wasser an alle Neuankömmlinge, eine wirklich nette und höchst wilkommene Geste! Ich setze mich an die Bar und erhole mich von der Strapaze. Die Herberge ist ganz neu, sehr geräumig, sauber und nett eingerichtet. Es befinden sich vielleicht 25 Pilger hier und die verlieren sich förmlich in dem großen Gebäude. Ich beziehe mein Bett und lege mich erst einmal ein paar Minuten hin. Nach kurzer Zeit bekomme ich erneut - wie bisher jeden Tag - einen Schüttelfrost, wenngleich wesentlich schwächer als die Abende zuvor.
Es wird Zeit, zuerst mich und anschließend die Wäsche zu waschen. Die Waschmaschine ist der ganze Stolz des Herbergsvaters und nur er darf sie einschalten. Im Preis von zwei Euro ist das Waschmittel bereits enthalten. Während sich die Trommel fleißig dreht, trinke ich ein Bier und melde mich für das Abendessen an. Dieses muss vorbestellt werden, besteht aus drei Gängen plus Getränk und ich kann aus unterschiedlichen Vor-, Haupt- und Nachspeisen auswählen.
Es gibt auch einen kleinen Shop und so kaufe ich mir einen Schlapp-Pilgerhut. Das Symbol einer Jakobsmuschel ziert dessen Vorderseite. Es gibt nur diesen, aber er ist in Ordnung. Der Wirt macht ein Foto von mir - mit neuem Hut - und ich bin wieder einmal von der Qualität der Kamera enttäuscht. Um mich herum sind die schönsten Motive, aber mit meiner kleinen Digitalknipse kann ich sie einfach nicht einfangen. Insbesondere hapert es am Zoombereich des Objektivs. Ich denke darüber nach, im nächsten größeren Ort eine neue Kamera zu erwerben.
Zwischenzeitlich ist die Waschmaschine fertig und ich möchte alles in den vorhandenen Wäschetrockner packen. Aber da habe ich Pech. Der Herbergsvater gibt mir unmissverständlich zu verstehen, dass er das Gerät heute nicht einschalten wird. Draußen scheint die Sonne und da wird die Wäsche eben aufgehangen. Im Prinzip hat er zwar Recht, allerdings übersieht er geflissentlich die Regenwolken, die sich mittlerweile am Horizont auftürmen. Da eine Grundsatzdiskussion mangels sprachlicher Gewandheit unmöglich ist, packe ich halt alles auf die Leine und begebe mich zu Tisch.
Das Abendessen ist prima. Während der Hauptspeise malt die Natur einen wunderschönen Regenbogen an den Abendhimmel. Fast sämtliche Pilger verlassen den Tisch und versuchen ihn zu fotografieren. Ein Regenbogen bedeutet natürlich, dass es regnet, und die Wäsche hängt noch im Freien, aber das habe ich im Moment glatt vergessen.
Leider setzt sich Willi, der Raser von vorhin neben mich. Da er nur Deutsch spricht, bin ich eben sein natürlicher Gesprächspartner und er labert mich zu. Das Thema ist Fußball. Ich erkläre ihm, dass mich das überhaupt total nicht ein bisschen auch nur ansatzweise interessiert - daraufhin erklärt er mir die Regeln der Bundesliga! Außerdem hat er Rücken, Wirbelsäule, Füße und Knie. Das habe ich auch alles! Er will mir vermutlich mitteilen, dass ihm das alles weh tut. Plötzlich fällt mir meine Wäsche ein und ich habe einen guten Grund, mich dem Gespräch zu entziehen. Da alle anderen am Tisch Englisch reden, er somit kein Wort versteht, wird es ihm bald langweilig und er geht auf sein Zimmer.
Ich hänge meine Klamotten - die zwischenzeitlich nasser sind, als unmittelbar nach der Wäsche - auf eine Leine neben der Waschmaschine, hole mir noch ein Bier und setze mich wieder an den Tisch. Es ist eine wirklich lustige Runde: ein Kanadier, ein Ire, der mit dem Fahrrad unterwegs ist und ein auffallend gutes Englisch spricht, sowie eine Kanadierin mit ihrer ungarischen Freundin. Wir stellen fest, dass es sich bei der Ungarin um die Frau handelt, welche am Abend zuvor in meiner Nähe im Garten saß und ebenfalls Tagebuch führte. Es wird viel gelacht und es ist offensichtlich, dass der Kanadier die Ungarin ziemlich nett findet!
Nach wenigen Minuten nimmt Willi erneut neben mir Platz, und versucht mich in ein weiteres Gespräch zu verwickeln. Er tut mir zwar irgendwie leid - es ist schon blöd von einem Gespräch ausgeschlossen zu sein - aber ich spreche hartnäckig weiter Englisch und nach einer Weile geht er halt ins Bett.
Der Abend bleibt lustig. Das Gespräch kommt auf Muscheln und ich erkläre, dass ich keine mit mir führe. Ich betrachte meine Reise ja auch eher als Wanderung und wenn überhaupt, dann würde ich nur eine ganz kleine haben wollen. Kaum gesagt, greift die Ungarin in eine mitgeführte Tasche und zaubert eine kleine Jakobsmuschel daraus hervor. Die habe sie über und möchte sie mir gerne schenken. Vielleicht mausere ich mich ja doch noch zu einem Pilger, einen passenden Hut und die notwendige Muschel besitze ich jetzt! Ich habe nie den Namen der Ungarin erfahren, aber von jetzt an nenne ich sie meine Muschelfee.
Da alle Anwesenden reichlich erschöpft sind, ist dieser schöne Abend viel zu früh zu Ende. Auf meinem Weg ins Bett mache ich einen Abstecher zu meiner Kleidung. Sie hängt noch immer klatschnass neben dem Wäschetrockner, aber dieser bleibt ja ausgeschaltet! Ich wringe sie so gut ich kann aus und hänge sie wieder auf die Leine. Kurz darauf schlafe ich tief und fest in einem großen Zimmer ohne Schnarcher!