Dienstag, 22. April 2008
Diese Nacht habe ich im Großen und Ganzen gut geschlafen. Da es immer eine Weile braucht, bis sich fünf Personen in einem kleinem Zimmer organisiert haben, bleibe ich noch ein wenig liegen, schreibe Tagebuch und beobachte die Anderen beim Packen ihrer Rucksäcke. Unglaublich, wie viel Zeit sie dafür benötigen. Seit etwa 25 Minuten packen sie aus und wieder ein, und aus, und....... Ich brauche dazu höchstens fünf Minuten.
Nachdem die Ersten aufgebrochen sind, springe auch ich aus dem Bett und mache mich fertig. Meinen Strohhut lasse ich zurück. Er beginnt sich aufzulösen und ist total verformt.
Es ist noch früh am Morgen und locker bewölkt, aber wenn sich die Sonne zeigt, ist es gleich sehr heiß. Der Weg führt zunächst mehr oder weniger an dem Fluss Rio Arga entlang. Dieser schlängelt sich durch einen Wald und es ist sehr angenehm, im Schatten der Bäume zu wandern. Dort wo die Sonne den Boden nicht erreicht, ist der Boden vom gestrigen Regen noch völlig aufgeweicht.
Ich verlaufe mich ein wenig, kann aber dafür länger durch den Schatten gehen. Der eigentliche Camino führt über die Landstraße und ich sehe in der Ferne die Silhouette einiger Pilger, die bereits in der Sonne braten. Da ist mir mein kleiner Umweg allemal lieber.
Unterwegs überholt mich Karin zweimal. Sie rennt förmlich über den Weg, macht aber offensichtlich des Öfteren längere Pausen. Kurz vor Arleta holt mich wieder einmal Arsch Nr. 1 ein. Zunächst sülzt er etwas über die tollen Deutschen, dann will er wissen, wie ich heiße. Ich sage es ihm natürlich und bereue es sofort. Er heißt Wilhelm - der Name passt - und freut sich darauf, mich heute Abend vielleicht zum Essen zu treffen. Nun, das werde ich zu verhindern wissen.
Ein wenig später passiere ich die Brücke von Trinidad de Arre und wandere danach durch brütende Hitze sehr steil bergan. Auf halber Strecke benötige ich eine Pause und nasche einige der Gummibärchen. Das war keine gute Idee! Mein Magen dreht sich um, mir wird speiübel. Ich schaffe es gerade so, mich nicht übergeben zu müssen, und es dauert eine Weile, bis ich mich wieder aufgerappelt habe.
Der Weg nach Pamplona, Hauptstadt der autonomen Region Navarra und einwohnerstärkste Stadt am Jakobsweg, ist recht urban und die harten Straßen sind eine Qual für geschundene Pilgerfüße. Da war mir der Matsch von gestern allemal lieber.
In Pamplona angekommen, trotte ich völlig fertig - die Sonne brennt jetzt so richtig heiß -durch die Straßen, in denen sonst die bekannten Stierläufe stattfinden. Vom 6.-14. Juli (Sanfermines) werden hier Stiere durch die Altstadt getrieben, ein wohl einzigartiges Spektakel, welches für unkundige Touristen nicht ganz ungefährlich ist. Ich finde jedoch keine Stiere, sondern eine Bar und trinke gegen 12:00 Uhr erstmal einen café con leche sowie ein Bier! Während ich mein - zugegebenermaßen sehr frühes Bier - genüsslich schlürfe, stelle ich fest, dass bereits am dritten Tag die Muskelmasse zu- und der Speck abnimmt. Nicht weltbewegend, aber immerhin. Ich fühle mich zwar matt - Beine und Füße sind lahm, müde und schmerzen sehr - aber irgendwie richtig wohl!
Mir fällt die Episode mit den Gummibärchen von vorhin ein und ich beschließe, ab sofort auf solche Naschereien völlig zu verzichten! Im Grunde mag ich den Kram gar nicht wirklich, aber wenn er da ist, esse ich ihn halt. DAS HÖRT AB SOFORT AUF! Ich werde bei nächster Gelegenheit meine letzten Gummibärchen symbolisch wegwerfen, die Tüte ist noch etwa ein Viertel voll UND DANN IST SCHLUSS MIT SÜßKRAM, AUF DAUER!!! Wirklich fehlen wird er mir nicht. Wenn ich das tatsächlich durchhalte - und ich bin überzeugt, dass ich das kann - hat sich mein Camino schon jetzt gelohnt (Anmerkung: bis zum Zeitpunkt des Schreibens dieser Zeilen etwa 6 Monate danach, habe ich bis auf ein Stückchen Schokolade nichts Süßes mehr gegessen).
Ich trinke noch ein weiteres Bier - Bier ist schließlich kein Süßkram und daher erlaubt - und mache mich auf den Weg zur nächsten Mülltonne. Dort angekommen, schieße ich ein Foto von meinen letzten Lakritzstücken, wie sie etwas widerwillig in die Tonne springen. Nach getaner Arbeit setze ich meinen Weg erleichtert und mit einem guten Gefühl fort.
Der Weg durch Pamplona und dort heraus ist zwar gut markiert, aber man muss darauf achten, keinen der gelben Pfeile zu übersehen. Manche sind auf den Boden gemalt, einige befinden sich in 3 oder 4 Meter Höhe auf irgendwelchen Schildern oder an Gebäuden, wieder andere findet man auf der gegenüberliegenden Seite einer Kreuzung. Zwischendurch bricht sporadisch die Sonne durch die Wolken, und ich stelle erneut fest, dass ich dringendst einen neuen Hut erwerben muss.
Gegen 14:30 Uhr erreiche ich Cizur Menor und suche etwa eine halbe Stunde lang nach der Herberge. Diese ist wirklich nett, sehr sauber und verfügt über eine heiße Dusche! In frischen Klamotten und mit eingecremten Füßen, fühle ich mich wieder wie neu. Allerdings brennen meine Füße, nicht zuletzt durch den harten Asphalt in Pamplona wie Feuer, aber ich habe glücklicherweise keine Blasen, und das trotz meiner relativ neuen Wanderschuhe.
Im Anschluß an ein ausgedehntes Nickerchen begebe ich mich zur Herbergsmutter, um meinen bei der Ankunft von ihr eingesammelten Credencial abzuholen und die Übernachtung zu bezahlen.
Die Herbergsmutter ist unglaublich. Sie nimmt sich meinen Reiseführer und betrachtet intensiv die Fotos. Den deutschen Text kann sie ja nicht lesen. Nach einiger Zeit beginnt sie wüst zu schimpfen. Ihr Englisch ist extrem rudimentär, ich verstehe nur, dass sie von dem Führer absolut nichts hält. Mit vielen Gesten erklärt sie mir nun, wie ich von hier aus nach Santiago komme. Dabei blättert sie sich durch die Seiten des Reiseführers, bis sie nach gut 20 Minuten die Seite von Santiago aufschlägt. Ein letztes Mal fuchtelt sie vor mir herum, und gibt mir das Buch dann mit einem zufriedenen Lächeln zurück. Ich sitze derweil entspannt in der Sonne und lasse den Schwall Worte über mich ergehen, erfahre aber immerhin zwei interessante Fakten. Erstens wird der Pilgerweg voller und sie empfiehlt Zwischenherbergen zu nehmen, und zweitens beginnt hinter Burgos eine weite, flache Ebene (die Meseta, weiß ich doch, steht ja auch im Führer), in der man auf jeden Fall einen Sonnenaufgang erleben sollte. Und sie empfiehlt einen Abstecher in die vermutlich von Kreuzrittern erbaute Kirche Santa Maria de Eunate. Diese achteckige Wallfahrtskirche (Ende 12. Jh.) gehört zu den schönsten und merkwürdigsten Beispielen romanischer Baukunst am Jakobsweg und ist sicher den Umweg von vielleicht 3km wert. Da ich morgen jedoch einen Ort weiter als im Führer vorgeschlagen gehen wollte - es gibt in der dortigen Herberge eine Waschmaschine - muss ich mal sehen, ob ich den noch schaffe.
Nach einer weiteren kurzen Siesta - die Italiener von gestern sind heute alle auf meinem Zimmer und die sieben Männer und eine Frau sorgen für eine temperamentvolle, lautstarke Atmosphäre - gehe ich zunächst einmal zum Restaurant, um zu schauen, wann es geöffnet hat. Laut Führer schließt es abends, eine Fehlinformation! Während meines Rundgangs durch den Ort trinke ich wieder einmal einen café con leche. Es ist ein etwas trostloser Ort, öde, grau und mit vielen Reihenbauten.
Zurück in der Herberge sehe ich einige Jugendliche um einen Teich stehen. Sie füttern die in ihm lebenden Goldfische und Wasserschildkröten mit Whiskas. Eine Katze bemüht sich, sämtliche Reste aus der Whiskasdose zu kratzen, läßt aber die Fische in Ruhe. Bei diesem Teich scheint es sich um eine Hauptattraktion des Ortes zu handeln, denn die Jugendlichen verweilen dort recht lange.
Mittlerweile ist auch Mary eingetroffen und bekommt eines der letzten Betten. Sie zeigt mir ihre Blasen, die mittlerweile voller Eiter sind. Das möchte ich eigentlich gar nicht sehen. Sie beabsichtigt dennoch morgen weiter zu gehen, ich finde das höchst unvernünftig. Am Ende wird sie wohl auf rohem Fleisch daher humpeln, es fehlt nicht mehr viel. Im Prinzip ist sie ganz nett, hat jedoch eine huldvolle und mitteilsame Art, die mir langsam auf die Nerven geht. Außerdem sieht sie einer sehr unliebsamen Bekannten außerordentlich ähnlich. Dafür kann sie zwar nichts, aber ich möchte sie eigentlich nicht so sehr um mich haben. Naja, bei diesen Blasen an ihren Füßen werden sich morgen wohl unsere Wege trennen.
Die Herberge ist wirklich sehr schön, ganz im Gegensatz zu dem Ort. Viele Pilger nutzen die Sonne, waschen ihre Kleidung und hängen sie zum Trocknen auf ein Wäschereck. Ich setze mich in den großen Garten, unweit des Teiches, und schreibe Tagebuch. Ein paar Meter entfernt sitzt eine mir unbekannte Pilgerin und macht das Gleiche. Die Vögel singen, die Sonne scheint und es ist friedlich - wenn nur meine Füße nicht derart schmerzen würden!
Kurz vor dem Abendessen bekomme ich trotz des Sonnenscheins wieder einmal Schüttelfrost. Er ist allerdings bei weitem nicht so schlimm wie gestern und ich begebe mich schließlich in das Restaurant. Dort sitze ich an einem Tisch mit Männern aus Norwegen, Italien, Frankreich, Kanada und Deutschland. Jeder erzählt irgendwelche Anekdoten vom Camino und es herrscht eine sehr nette Atmosphäre. Zum Essen gibt es Suppe, Fleisch mit Pommes und etwas Tiramisuartiges als Nachspeise. Ein typisches Pilgermahl für zehn Euro.
Satt begebe ich mich etwas später als die letzten Tage ins Bett, diesmal in Anbetracht meiner italienischen Zimmergenossen mit Ohrenstöpseln im Hörgang.