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Tag 13
von Atapuerca nach Burgos
Donnerstag, 1. Mai 2008
 

In der Morgendämmerung weckt mich der Bettenspringer mit seinem Geschnarche. Ich bin versucht, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen und entschlossen auf den Boden zu springen, beherrsche mich aber, zumal mein Bett nicht sonderlich hoch ist, und der Knall dementsprechend leise ausfallen würde. Ein wenig später steht die Gruppe auf. Das Licht wird ständig an- und ausgeschaltet, die Fenster werden mehrfach geöffnet und geschlossen. Niemand aus der Gruppe nimmt Rücksicht oder fragt gar, ob sich jemand gestört fühlt. Sie machen einfach, was ihnen in den Sinn kommt. Am schlimmsten treibt es die Frau. Sie hat wirklich jedes Teil ihrer Ausrüstung einzeln in Plastiktüten verpackt, und diese wiederum in weitere Tüten. Da sie ihren Rucksack mehrfach ein- und wieder ausräumt, nimmt das nervige Rascheln kein Ende. Aber immerhin gehen sie tatsächlich zu Fuß und beschweren sich auch über die Busfahrer. Morgen werden sie von Burgos aus nach Hause fliegen, die Chance ihnen noch einmal zu begegnen ist daher recht gering.

Da das Zimmer nicht viel Platz bietet, ergebe ich mich in mein Schicksal und warte, bis die Gruppe nach etwa 90 Minuten endlich das Feld räumt. Die Zeit nutze ich für meine Tagebucheintragungen. Dann mache auch ich mich fertig und verlasse 15 Minuten später ebenfalls die Herberge.

In der gegenüberliegenden Bar treffe ich beim ersten café con leche des Tages Stefan und Gary. Sie haben ihren Kaffee bereits getrunken und nach einem kurzen Schwatz brechen sie auf. Ich folge ihnen eine Weile später.


jw 13 02jw 13 03Durch die Vororte und das graue Industriegebiet von Burgos will ich nicht laufen und möchte daher - dem Rat meines Reiseführers folgend - ab Villafria einen Bus zum Zentrum von Burgos nehmen. Immerhin erspare ich mir so etwa knapp drei Stunden Asphaltlatscherei durch wirklich öde Gegend.

jw 13 04Daher ist die heutige Etappe sehr kurz und ich kann mir Zeit lassen. Zudem werde ich so frühzeitig in Burgos ankommen, dort in aller Ruhe einen Geldautomaten suchen und etwas einkaufen können. Insbesondere benötige ich einen neuen Hut! So die Theorie, indes, es soll ganz anders kommen!

Da ich nur über wenige Münzen verfüge, suche ich in einem der nächsten Dörfer erneut eine Bar auf, trinke einen café con leche, bezahle mit einem Geldschein und erhalte so genügend Wechselgeld für den Bus. jw 13 05Während ich meinen Kaffee schlürfe, beobachte ich ein italienisches Pärchen, wie sie sich gegenseitig ihre arg geschwollenen und entzündeten Füße behandeln. Sie scheinen eine medizinische Ausbildung zu haben, jedenfalls führen sie eine umfangreiche Apotheke mit sich, in der es neben zahlreichen Tabletten, Salben und Spritzen auch von verschiedenen Zangen und Klammern wimmelt, Dinge also, die eindeutig nicht in einer normalen Reiseapotheke zu finden sind. Der Anblick ihrer Arbeit mit Faden und Nadel ist allerdings nichts für empfindliche Nerven...

jw 13 07aIn Villafria ändert sich mein Tagesplan vollständig. Da heute Feiertag ist, fährt kein Bus! Also latsche ich - wie schon in Pamplona - wieder einmal über Asphalt. Die Sonne knallt, die Füße brennen und ich habe keinen Hut. Ein Gewerbegebiet ist prinzipiell öde, heute aber überdies noch ausgestorben. Wie ein Aasgeier dreht ein Storch seine Kreise über eine menschenleere Landschaft. Ich komme nur schleppend voran, es ist eine Tortur!

Nach etwa zwei Stunden erreiche ich eine Bar. Sie ist total verdreckt, völlig verraucht und ziemlich schmutzige Gesellen lungern darin herum, aber ich benötige dringendst eine Toilette und eine Pause. Meine Füße schmerzen wieder derart, dass ich sie hochlege. Ich bleibe ziemlich lange sitzen, trinke allerdings wegen der hygienischen Zustände hier nur einen café con leche. Ich erfahre, dass die Herberge in der Innenstadt noch etwa eine Stunde entfernt liegt. Es gibt noch eine weitere Unterkunft am Stadtrand, aber diese möchte ich möglichst meiden. Erstens soll sie recht einfach sein und zweitens müßte ich dann zum Essen oder für einen Stadtbummel wieder zurück ins Zentrum laufen; Busse fahren heute ja nicht! Sollte ich also in der Herberge kein Bett mehr bekommen - das halte ich für wahrscheinlich, da viele Pilger heute Morgen vor mir aufgebrochen sind - werde ich mir halt ein Zimmer nehmen, notfalls in einem Hotel.

jw 13 08Indes, ich habe Glück! Gegen 13:30 Uhr erreiche ich die Herberge, diese öffnet gerade erst ihre Pforten - und ich bin der erste und einzige Pilger vor dem Tor! Vermutlich haben sich viele Pilger gleich in ein Hotel einquartiert. Von den neun Etagenbetten belege ich die obere Etage der dem Eingang am nächsten gelegenen Schlafstätte, weil es dort am hellsten ist. Ich brauche keine 10 Minuten, um mich einzurichten, in dieser Zeit werden auch alle übrigen Betten belegt. Die Leiter zum oberen Bett besteht aus ganz dünnen Sprossen. Diese schneiden beim Besteigen des Bettes in die ohnehin gereizten Füße und auf die Matratze zu kommen, ist eine schmerzvolle Quälerei. Wer konstruiert solche Leitern?

Die Herberge wird auf Spendenbasis betrieben, was in Anbetracht der Lage - mitten im Zentrum von Burgos - bemerkenswert ist. Der Herbergsvater ist ein uriger Kauz. Er läuft hin und her, verbietet einiges, erlaubt anderes und weist Betten zu. Ich dusche als erstes, schön heiß. Danach ist allerdings das warme Wasser aufgebraucht und alle nach mir duschen ab jetzt kalt. Als ich aus der Dusche komme, beobachte ich, wie der Herbergsvater mit einem Weihrauchfass den gesamten Schlafsaal einräuchert. Spätestens jetzt ist klar, dass es sich um eine christliche Herberge handelt.

jw 13 20Eine Treppe führt in die obere Etage zu einer Krankenstation. "Vermutlich werden hier die Menschen mit - durch Weihrauch verursachten - Atemwegsproblemen behandelt", schießt es mir durch den Kopf. Ich dachte, ausnahmsweise der einzige Deutsche zu sein, bemerke jetzt aber zwei ältere Frauen, die leise ernste Gespräche führen. Ich schätze die ältere der beiden auf über 70 Jahre. Bei ihnen scheint es sich um echte Pilger mit einem Anliegen zu handeln, denn sie unterhalten sich ständig mit leidvoller Miene und gedämpfter Stimme und der älteren Dame rinnt immer wieder mal eine Träne über die Wange.

Ich verlasse die Herberge, einerseits um die Stadt zu besichtigen, andererseits, um dem Weihrauch zu entfliehen. Am Eingang treffe ich auf eine italienische Frau, die mich enttäuscht fragt, ob die Herberge wirklich voll sei. Sie tut mir richtig leid, wie sie völlig erschöpft vor mir steht und traurig aus ihren Augen schaut, ein Bild des Jammers. Ich werde sie später wieder treffen und ihren Namen erfahren. Zunächst jedoch geht sie weiter, ich weiß nicht wohin.

jw 13 19Auf dem zentralen Platz gönne ich mir ein Bier und beobachte eine Folkloregruppe bei der Aufführung eines Tanzes.

In einem anderen Restaurant treffe ich auf das italienische Paar vom Paella-Abend. Sie sind morgen den letzten Tag in Spanien und fliegen dann nach Hause. Wir verabschieden uns voneinander, und ich spaziere noch ein wenig durch Burgos.

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Die Kathedrale ist wohl sehr schön, aber da Eintritt verlangt wird, gehe ich nicht hinein. Es geht mir nicht um die paar Cent, aber ich finde es unmöglich, für eine Kirche Eintritt zu verlangen! Da gehe ich dann aus Prinzip nicht rein.

jw 13 17Anlässlich des Feiertages wurde ein Marathonparcour aufgebaut, in dem zahlreiche Leute laufen oder mit Inlinern fahren. Es herrscht eine unglaubliche Lautstärke. Stefan ruft an. Er möchte sich mit mir treffen, aber wir verpassen uns im Gewühl. Also setze ich mich in ein beliebiges Restaurant und bestelle Döner und Fritten. Kaum ist das Essen auf dem Tisch, kommt er um die Ecke. Wir schwatzen ein wenig, er geht wieder und ich würge kaltes Fastfood hinunter. Dazu trinke ich ein geeistes Bier.

Hier habe ich urplötzlich den absoluten psychischen Tiefpunkt meiner Reise. Wie aus heiterem Himmel kommt es über mich und ich könnte heulen. Das Restaurant befindet sich in einer schattigen Seitenstraße. Mir ist kalt, das Essen schmeckt scheußlich und ist auch kalt, das Bier ist schal und meine Füße schmerzen. Zudem bin ich erschöpft und benötige eigentlich eine Auszeit! Das Schlimmste ist jedoch das intensive Gefühl von Einsamkeit. Ich komme mir auf einmal völlig verloren und isoliert vor. Ich habe einfach keine Lust mehr und möchte nur noch nach Hause fahren! Der Gedanke an die Herberge mit den Schmerzen verursachenden Leitersprossen ist auch nicht geeignet, mich aufzuheitern. Es reicht mir!

Aber ich denke auch an das, was ich bereits erlebt habe und eine zweite Chance diesen Weg zu gehen, werde ich vielleicht nicht mehr bekommen. Fast drei Stunden sitze ich hier und hadere mit meinem Schicksal. Soll ich abbrechen oder weitergehen? Schließlich raffe ich mich auf, trete mir geistig selber in den Hintern und beschließe nun zügig durch die Meseta zu wandern, bis Leon. Das dauert 6-7 Tage. Spätestens dort werde ich mir für zwei oder drei Tage ein Zimmer nehmen und so richtig ausspannen. Allerdings habe ich mittlerweile auch gelernt, dass der Jakobsweg seine eigene Dynamik hat und Planungen leicht über den Haufen geworfen werden.

Ich begebe mich früh in die Herberge zurück, quäle mich die dünnen Leitersprossen hoch und lege mich hin. Auf einmal beginnt der Herbergsvater - wie um mich zu trösten - Gitarre zu spielen. Dazu singt und pfeift er sehr gut. Langsame und schnelle Stücke wechseln sich ab, er spielt sicher eine Stunde lang, die anwesenden Pilger freuen sich und singen teils mit. Ich mache einige Tonaufnahmen mit meiner Kamera und schlafe schließlich ein.

 

 Vielleicht ist doch nicht alles schlecht auf dem Jakobsweg...

 
 
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