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Tag 1
Von Köln nach Saint-Jean-Pied-de-Port
Samstag, 19. April 2008
 
Es ist 6:50 Uhr. Ich sitze mit meiner Frau im Starbucks des Kölner Hauptbahnhofs und wir trinken - klar - jeder einen Becher Kaffee. Mein Zug fährt in etwa 10 Minuten los, also schütten wir unsere Getränke herunter und eilen zum Bahnsteig. Pünktlich läuft der Zug in den Bahnhof ein, ein letztes Winken, der Thalis setzt sich in Bewegung und ich bin unterwegs nach Saint-Jean-Pied-de-Port, dem Startpunkt meiner Wanderung über den Jakobsweg. Wenigstens 5 Wochen werde ich nun alleine wandern und ich frage mich mehr und mehr, ob ich das überhaupt durchhalten werde, sowohl physisch als auch psychisch.

Aber zuerst einmal verstaue ich mein Gepäck. Mein jetzt knapp 16kg schwerer Rucksack paßt nicht in die Ablage über den Sitzen, also stelle ich ihn in das dafür vorgesehene Regal zwischen zwei Abteilen. Obwohl nur etwa die Hälfte der Sitze belegt sind, stapeln sich in den Gepäckablagen bereits Taschen und Koffer. Wenn der Zug wirklich ausgebucht ist, gibt es sicher zuwenig Stauraum für das Gepäck.

Ich sitze auf meinem Platz und beobachte einen Mann, der unbedingt auf seinen Fensterplatz will, und zwar sofort. Er raunzt den daneben sitzenden jungen Mann an und bevor dieser aufstehen kann, um ihn vorbei zu lassen, quetscht er sich an ihm vorüber und schlägt ihm dabei seine Plastiktüte gegen den Kopf. Der abfällige Blick mit dem er von Zeit zu Zeit seinen Platznachbarn mustert, verdeutlicht, was er von langhaarigen Menschen mit Rucksack hält.

Pünktlich um 13:10 Uhr erreicht der Zug Paris. Ich muss mit der Metro zum Gare Montparnasse fahren, wo der Zug nach Bayonne hoffentlich auf mich wartet. Leider ist mein Französisch extrem rudimentär und nach 20 Minuten weiß ich noch immer nicht, welche Metro ich nehmen muss, an welchem Bahnsteig diese losfährt und was für ein Ticket ich brauche. Langsam werde ich ein wenig nervös, in weniger als einer Stunde fährt mein Anschlusszug los und ich stehe noch immer völlig hilflos in der Gegend herum.

Ich wende mich an mehrere Bahnbeamte, aber die wollen erst gar nicht verstehen, was ich will, da sie offensichtlich etwas anderes zu erledigen haben. Schließlich frage ich eine Frau in einem Kiosk gleich neben einem riesigen Ticketautomaten. Diese gibt sich redlich Mühe, versteht wo ich hin möchte und zieht mit mir gemeinsam das richtige Ticket. Leider habe ich kein passendes Geld. Der Automat hat zudem eine Fehlfunktion und erkennt keine Geldscheine, sodass die hilfsbereite Dame gezwungen ist, meinen Schein in ihrer Kioskkasse zu wechseln. Blöderweise nimmt der Automat auch nicht alle Münzen an, so dass die Frau mehrfach andere Münzen holt, bis schließlich ein paar Geldstücke gefunden sind, die der Automat akzeptiert. Hurra, ich habe mein Ticket. Nun versucht sie mir den Weg zum richtigen Bahnsteig zu beschreiben - hoffnungslos!
Nach einer Weile bedeutet sie mir zu warten, verschwindet, und kommt mit einer anderen, sehr viel jüngeren Frau zurück. Sie stellt sich als deren Tochter vor und spricht gut Englisch. Nachdem sie mir den Weg beschrieben hat, verabschiedet sie sich mit dem Hinweis darauf, dass es das Metro-Ticket auch im Kiosk gäbe, und sie gar nicht verstehen könne, warum ihre Mutter nicht einfach das Ticket von dort genommen hat, anstatt sich mit dem defekten Automaten herum zu schlagen.

Kurz darauf stehe ich in einem völlig überfüllten Waggon und fahre Richtung Montparnasse.

Denke ich!

In der Bahn hängt eine Tafel mit den Namen der Haltestellen. Ich versuche die nächste Station darauf zu finden, kann sie aber nicht entdecken. Auch die folgende Station ist nicht auf dieser Tafel verzeichnet.

Ich bin in der falschen Bahn!

Jetzt überkommt mich ein Anflug von Panik. Ich habe nur noch weniger als 30 Minuten bis zur Abfahrt des Anschlusszuges und fahre in die falsche Richtung. An der dritten Haltestelle will ich aussteigen, doch deren Name steht in großen Buchstaben auf der besagten Tafel. Ich bin also doch in der richtigen Linie, es sind lediglich nicht alle Stationen auf dieser Anzeige aufgeführt.

Ein wenig später sitze ich am Bahnsteig des hoffentlich richtigen TGV und verschnaufe ein wenig. Ich habe noch 15 Minuten bis zur Abfahrt und merke jetzt das erste Mal, wie belastend ein 16kg schwerer Rucksack sein kann. Bei dem Gedanken, dass die Wasserflaschen nicht komplett gefüllt sind - also noch ca. 1 Kilo hinzukommen wird - überlege ich jetzt doch, ob ich nicht etwas zu viel Gewicht mit mir rumschleppe.

jw 01 05Während der kurzen Pause beobachte ich eine alte Dame, die hier im Bahnsteig ganz zufrieden Tauben füttert. Dann gehe ich vorbei an meinem außergewöhnlich langen Zug, und suche das richtige Abteil nach Bayonne. Offensichtlich besteht der Zug aus drei oder vier Abschnitten, die irgendwann zwischendurch ab- und umgekoppelt werden. Ich latsche also die Waggons ab und bin schon fast am Ende des Zuges angekommen. Kein Abteil mit der Aufschrift Bayonne ist in Sicht. Schon steigt wieder Panik auf, da sehe ich sie. Die letzten beiden Abteile sind die gesuchten. Ich verstaue meinen Rucksack und nehme erleichtert Platz. Mein Sitz hat die Nummer 42, und 42 ist ja bekanntlich die Antwort auf alles. Das Umsteigen hier in Paris war wirklich stressig. Ich muss dringend rudimentär Französisch lernen!

Jetzt sollte der Zug eigentlich losfahren. Denkste! Mit 14 Minuten Verspätung ruckelt er schließlich los. Hoffentlich bekomme ich jetzt noch den Anschluß von Bayonne nach Saint-Jean-Pied-de-Port.

Mit 15 Minuten Verspätung erreiche ich Bayonne. Der Zug nach Saint-Jean fährt genau jetzt los!

Ich springe aus dem TGV und schaue mich hektisch um. Nur ein weiterer Zug ist zu sehen, an einem anderen Bahnsteig. Ich hetze also durch eine Unterführung und erreiche keuchend das Ende des roten Bummelzuges. Ganz außer Atem frage ich einen herumstehenden Bahnbeamten, ob dies der Zug nach Saint-Jean sei. Dieser lächelt und nickt lässig. Ich will wissen, wann er denn losfährt. Er zuckt die Achseln und lächelt weiter. Der Zug wartet halt, bis alle da sind, und das dauert eben noch eine weitere halbe Stunde.

Während ich im Zug sitze, frage ich mich, was wohl passiert wäre, wenn ich den Anschluß verpaßt hätte. Die Antwort: eigentlich nichts. Ich habe Zeit und hätte halt den nächsten genommen. Ich habe keinen festen Plan, also auch keine Notwendigkeit irgend etwas in einer bestimmten Zeit schaffen zu müssen. Ich werde versuchen, weniger hektisch zu werden und die Dinge auf mich zukommen zu lassen. Mit einem Schlag bin ich wesentlich entspannter und das soll sich - wie ich später erkenne - bis zum Ende der Reise nicht mehr ändern.

Es befinden sich wenigstens zehn weitere Personen mit Rucksack in meinem Abteil und zum ersten Mal höre ich das Wort Camino auf Spanisch. Ab und an unterhalten sich zwei Leute, aber die meiste Zeit sitzt jeder etwas nachdenklich herum. Es herrscht eine erwartungsvolle Atmosphäre.

jw 01 06In Saint-Jean, der Hauptstadt der Region Basse Navarre im französischen Baskenland und letzte Station des französischen Jakobswegs, bevor es über die Pyrenäen nach Spanien geht, steigen 15-20 Leute aus dem Zug und sofort geht die Rennerei um die besten Betten los. Aber ich will ja lockerer werden. Also suche ich in Ruhe die Adresse der Pilgerherberge aus meinem Reiseführer heraus, während die anderen erst einmal wie eine Herde Schafe ins zentrale Pilgerbüro laufen. Ich erreiche als erster die Herberge und bin ganz stolz auf meine Genialität. Pech gehabt! Die Herberge ist voll bis oben hin! Also gehe auch ich nun ins Pilgerbüro und bin jetzt natürlich der Letzte in der Schlange. Na toll! Wer ist jetzt der Hammel?


jw 01 09Da sich die dort arbeitenden Menschen recht viel Zeit für jeden Pilger nehmen (was an sich gut ist), stehe ich ziemlich lange an, weit über eine Stunde. Während ich warte, erfahre ich so nebenbei, dass die Route Napoléon, also der Weg über die Pyrenäen, verschneit ist und nicht empfohlen wird. Heute mussten zwei Pilger gerettet und in ein Krankenhaus gefahren werden. Also beschließe ich, morgen die langweilige Umgehungsstraße zu nehmen. Schließlich soll meine Reise nicht schon am ersten Tag enden, und alleine einen riskanten Weg zu gehen ist einfach nur unvernünftig. Wie schnell hat man sich z.B. einen Fuß umgeknickt! Die Route Napoléon verdankt ihren Namen im übrigen der Tatsache, dass sie von Napoleons Truppen erschlossen wurde. Endlich bin auch ich an der Reihe und bekomme neben meinen ersten Stempel in meinen Credencial (leider mit falschem Datum) problemlos ein Luxuszimmer zugewiesen. Luxus heißt: nur 8 Leute auf dem Zimmer und Etagendusche. Aber das geht in Ordnung, denn es ist im Großen und Ganzen recht sauber.

Ich beziehe also mein Zimmer für diese Nacht. Die redselige Herbergsmutter namens Carina macht mich höflich aber energisch darauf aufmerksam, dass dies ihr zu Hause sei und ich gefälligst die Schuhe auszuziehen hätte. Dann berichtet sie, dass es sich bei den geretteten Pilgern um zwei ca. 75 jährige, völlig übergewichtige Damen gehandelt habe. Ich gehe irgendwo essen und bei zwei Bier und einem Haussalat beschließe ich nun, morgen doch die Route Napoléon zu wagen. Erst zehn Tage später werde ich erfahren, dass der morgige Tag die vorerst letzte Gelegenheit war, diesen Streckenabschnitt zu wandern. Danach wurde er für mehrere Tage gesperrt. Doch zunächst muss ich zurück in die Herberge, da um 22:30 Uhr die Duschen ausgeschaltet werden.

Ich schlendere noch ein wenig durch diese kleine und hübsche Kleinstadt am Fusse des Passes von Roncesvalles. Der Fluss Nive teilt sie in zwei Hälften und liefert Motive für einige hübsche Nachtaufnahmen.

 

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Um 22:15 Uhr falle ich ins Bett und sofort in einen tiefen Schlaf.

 
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