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Tag 16
von Castrojeriz nach Boadilla del Camino
 
Sonntag, 4. Mai 2008
 

Es ist eine schauderhafte Nacht! Geschnarche, Geschmatze und einfach nur Krach. Ich kann nicht schlafen, also lade ich mir das Spiel Sim2 auf mein Handy und spiele es stundenlang. Es ist recht langweilig, aber es beschäftigt mich immerhin. Letztendlich nervt jedoch auch das Spielen auf dem kleinen Display, also will ich versuchen, einige Zeilen in mein Tagebuch zu schreiben. Es ist stockdunkel, lediglich ein kleiner Tisch im Vorraum wird durch den Schein einer Straßenlaterne ein wenig erhellt. Also setze ich mich an diesen Tisch, schreibe zwei Sätze - und das Licht der Straßenlaterne geht aus. Gezwungenermaßen lege ich mich also wieder auf meine Matratze und drehe mich den Rest der Nacht von der einen Seite auf die andere. Heute Abend möchte ich mir ein Einzelzimmer nehmen. Es wird höchste Zeit. Mit dem Gedanken an diesen bevorstehenden Luxus falle ich schließlich in einen unruhigen Schlaf, welcher immer wieder durch irgend einen Schnarcher unterbrochen wird.

jw 16 04jw 16 02Am nächsten Morgen fühle ich mich sehr gerädert und brauche eine Weile, um in Schwung zu kommen. Ina geht schon mal vor. Sie möchte zunächst alleine wandern und ich will es auch. Schließlich mache ich mich wieder auf den Weg, vorbei am Tafelberg von Castrojeriz, hinein in die Weiten der Meseta.

jw 16 03Gegen 11:00 Uhr erreiche ich ein Pilgerhospital kurz vor Itero de la Vega. Ein Mann empfängt mich sehr freundlich und drückt mir einen Stempel in meinen Credencial. Es handelt sich hier um eine kleine Kapelle, in der acht Betten für Pilger bereit stehen. Auf dem Tisch steht ein Korb mit Äpfeln und Brot für jedermann. Es ist ein sehr ruhiger und angenehmer Ort. Hätte ich doch nur hier übernachtet. Ich spiele mit dem Gedanken, heute einfach hier zu bleiben, aber der Camino ruft und so raffe ich mich wieder auf. Mit freundlichen - aber leider unverständlichen - Worten entlässt mich der Mann wieder auf die Straße.

jw 16 06Kurz darauf treffe ich Ina in einer Bar in Itero de la Vega. Der Wirt ist unglaublich langsam. Er benötigt 20 Minuten um einen café con leche zuzubereiten und weitere 10 Minuten um ein Glas Cola zu füllen. Wir sitzen daher eine ganze Weile vor der Bar und genießen die Sonne.

jw 16 10jw 16 12Schließlich gehen wir gemeinsam zu unserem heutigen Zielort Boadilla del Camino. Durch eine völlig verwitterte Türe betreten wir die Herberge. Dieses Tor steht in einem krassen Gegensatz zur Herberge, welche nicht nur sehr schön und sauber ist, sondern sogar über einen - leider abgedeckten - Pool verfügt. Ein gepflegter Garten lädt dazu ein, sich mit einem heißen oder kalten Getränk hinzusetzen und seine Seele baumeln zu lassen. Aus dem gewünschten Einzelzimmer wird zwar nichts, aber mit ein wenig Glück werden mich diese Nacht in meinem 6-Bettzimmer keine Schnarcher aus meinen Träumen reißen. Ich muss dringendst meine Wäsche waschen, das darf ich jedoch nicht selber erledigen. "`Mama wäscht!"', lautet die Devise und ich muss meine Kleidung in einen Wäschekorb legen. Für einen Spottpreis bekomme ich später am Abend alles gewaschen, getrocknet und ordentlich gefaltet zurück.

jw 16 09Da ein Sommergewitter heraufzieht, beeilen sich Ina und ich, durch das Dorf zu schlendern. Störche nisten auf dem Kirchturm. Vor dieser Kirche soll eine bemerkenswerte steinerne Gerichtssäule stehen. An dieser fein gearbeiteten, mit Pilgermuscheln verzierten Stele wurde früher Gericht gehalten. Wir können sie jedoch nicht finden. Erst nach zweimaliger Umrundung des Gotteshauses entdecken wir sie. Wir haben nach etwas Kleinem gesucht, die Stele ist jedoch mehrere Meter hoch. Somit war sie außerhalb unseres Beuteschemas, so dass wir sie schlichtweg ignoriert hatten.

jw 16 22Vorbei an einem, von zahlreichen tapferen Gartenzwergen bewachten Haus gehen wir zum Dorfrand. Hier finden wir zahlreiche tiefe Löcher und einige verfallene Lehmbauten. Ich vermute, dass es sich hier um ehemalige Brunnen und Kornspeicher handelt. Immerhin befinden wir uns inmitten der Meseta, dem Kornspeicher Spaniens.

 

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Dunkle Wolken türmen sich jetzt schnell am Himmel auf und ein Böenkragen kündigt ein schweres Gewitter an. Wir schaffen es gerade so, zurück in die Herberge zu kommen, als ein Unwetter losbricht, wie ich es selten erlebt habe. Binnen kürzester Zeit fallen Wassermassen vom Himmel und überfluten den Boden des Speisesaals im Erdgeschoss. Für etwa 45 Minuten fällt der Strom komplett aus.

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Der Esssaal ist zu klein für alle Pilger, die jetzt dichtgedrängt mit ihren Stühlen auf Zeitungspapier sitzen, welches der Wirt auf dem Boden ausgelegt hat, um den eindringenden Regen aufzusaugen. Es kann nur in Schichten gegessen werden. Leider gehören wir zur zweiten Schicht. Aus Ermangelung an Sitzgelegenheiten werden sechs Pilger - darunter wir - in das private Wohnzimmer der Wirte geführt. Unmissverständlich macht uns der Sohn der Herbergseltern darauf aufmerksam, dass es sich um eine besondere Ehre handelt, in diesem völlig überladenen und für meinen Geschmack extrem kitschigen Raum sitzen zu dürfen. Auf dem kleinen Tisch in der Mitte des Zimmers steht eine viel zu große und ebenfalls außerordentlich kitschige Madonnenfigur, daneben ein - normalerweise im Esssaal zu findendes - Drahtgestell mit kleinen Chipstüten und Ähnlichem. Alle sind sehr hungrig, es ist kalt und dunkel. Der Strom ist ja ausgefallen. Auch Ina hat den Großteil ihrer Kleidung zum Waschen abgegeben und friert jetzt sehr. Ein Franzose leiht ihr seinen Pulli, irgend jemand entzündet eine Kerze und im spärlichen Kerzenschein machen wir uns über einige der Chipstüten her.

Erst deutlich nach 21:00 Uhr sind auch wir endlich mit Speisen an der Reihe und bekommen schließlich ein wirklich gutes Abendessen serviert. Während wir auf die Hauptspeise warten, knuspern wir schon einmal das Brot und beobachten eine hektische und laute Szene am Nachbartisch. Ein Gast hat darauf bestanden, 10 Cent Wechselgeld zurück zu bekommen. Über diese Unhöflichkeit regt sich der Sohn des Wirtes sehr auf und zetert und schreit, wie es wohl nur Spanier können.

Da der im Führer angepriesene Geldautomat im Dorf schlichtweg nicht existiert, und Ina daher kein Geld abheben konnte, leihe ich ihr etwas Bares. Wir zahlen, nehmen unsere saubere Wäsche in Empfang und ich gehe zu Bett. Es ist zwischenzeitlich sehr spät geworden und ich bin hundemüde, nicht zuletzt wegen der schlaflosen Nacht zuvor. Meine gewaschenen Sachen stapel ich einfach am Fußende des Bettes auf, einpacken kann ich sie morgen in der Frühe. Während ich mir die Zähne putze, höre ich durch ein offenes Fenster das Geigenspiel eines Pilgers/einer Pilgerin, der/die sein/ihr Instrument offensichtlich sehr gut beherrscht. Kurz darauf schlafe ich tief und fest.

 
 
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