Trotz des riesigen Schlafsaals habe ich - selbst ohne Ohrenstöpsel - tief und fest, geradezu komatös geschlafen. In der Nacht muss es einen Zwischenfall gegeben haben. Irgend jemand ist wohl aus der oberen Etage der Doppelstockbetten gefallen, Licht wurde angemacht und ein Arzt wurde geholt, aber ich habe davon nichts mitbekommen. Ich muss wirklich sehr erschöpft gewesen sein. Das Bett von Ballermännchen ist unberührt, lediglich sein Rucksack liegt da. Vermutlich dauerte seine Party länger, als es die Einlasszeit der Herberge zulässt, und er hat irgendwo anders genächtigt, na, mir soll es recht sein.
Meine Beine fühlen sich müde an, und meine Oberschenkel sind ein wenig taub, aber das wird sich sicher bald normalisieren. Ich stehe also auf, kleide mich an und gehe hinunter. Eigentlich wollte ich gleich loswandern, aber es gibt hier für nur 3,-€ ein erstaunlich reichhaltiges Frühstück: café con leche, Milch, O-Saft, Brot, Marmelade und Joghurt soviel man möchte. Also nehme ich erst einmal ein kleines Frühstück zu mir und breche danach auf.
In Santa Catalina de Somoza treffe ich in einer Bar erneut John und Jenny, das nette Paar vom Paella-Abend. Sie winken mich an ihren Tisch und wir tauschen Erlebnisse aus. Auch wollen sie wissen, ob mir dieser andere, unangenehme Kölner aufgefallen ist. Kaum dass wir von ihm sprechen, kommt Ballermännchen um die Ecke, nimmt sich einen Stuhl und quetscht ihn an unseren viel zu kleinen Tisch. Lauthals beklagt er sich darüber, wie schlecht es ihm heute geht. Und als ob das noch nicht genug wäre, hat er auch kein Netz für sein Handy. Eigentlich wollte ich eine längere Pause machen, jetzt aber bezahlen wir drei unsere Getränke und verlassen schleunigst die Bar.
Unterwegs stelle ich fest, dass ich bei dem überstürzten Aufbruch meine Schuhe nicht richtig zugebunden hatte. Aber sie sitzen dennoch fest am Fuß, ich habe einen sicheren Tritt und es geht sich wesentlich leichter. Offensichtlich habe ich sie bislang immer zu fest zugeschnürt, das ändere ich ab sofort!
In El Ganso gönne ich mir nur eine kurze Rast, und gehe dann weiter nach Rabanal del Camino. Es ist eine sehr schöne Wanderung, das Wetter ist prima, die Landschaft hält mich in ihrem Bann, und die Dörfer sind nett. Ich genieße den Tag, wenn ich nur nicht so grundsätzlich erschöpft wäre.
In Rabanal begebe ich mich zunächst in das Refugio Gaucelmo. Da es noch geschlossen hat, stelle ich meinen Rucksack in die Reihe vor der Türe, so etwa an Position zehn, und suche dann die einzige Bar am Ort auf. Dort sitzt bereits Ballermännchen und unterhält die anderen Anwesenden. Er muss wohl mit dem Bus oder Taxi gefahren sein, ansonsten könnte er nicht schon vor mir hier sitzen. Da ich keine Lust habe, ihm erneut über den Weg zu laufen, was jedoch in der winzigen Bar unvermeidlich wäre, gehe ich in ein Restaurant. Es ist recht düster hier, aber das Bier schmeckt gut und erfrischt ungemein. Ein kleiner Supermarkt in der Nähe versorgt mich mit winzigen Muffins.
Zurück in der Herberge treffe ich Sonja und Gitta. Die habe ich ja seit über einer Woche nicht gesehen. Gitta und ihr Begleiter sind ganz offensichtlich in der Zwischenzeit ein richtiges Paar geworden. Eigentlich wollte Sonja in meinem Refugium übernachten, aber Gittas Freund hat bereits für alle drei ein Zimmer in der anderen Herberge gebucht. Mit der Aussicht auf ein gemeinsames Abendessen ziehen die drei von dannen.
Einlass in das Refugium ist bereits eine halbe Stunde vor der angegebenen Zeit. Gut dass ich schon hier bin, denn es finden nur 24 Personen Platz. Wieder einmal wird sie auf Spendenbasis betrieben, ebenso das Frühstück. Die Herberge ist wirklich gut geführt. Während der Herbergsvater die Formalitäten übernimmt, schwatzt seine Frau mit jedem Pilger, möchte wissen woher man kommt und wohin man geht, ob es Probleme, z.B. mit den Füßen gibt und so weiter.
Ich beziehe mein Bett und mir wird bewusst, dass es vorraussichtlich noch neun Etappen bis Santiago sein werden. Ich bin darüber nicht traurig. Ich genieße meine Wanderung zwar täglich mehr und mehr - heute z.B. war wieder ein wunderbarer Tag - bin aber nach wie vor ständig erschöpft und meine Füße schmerzen unablässig. Der Gedanke, es in absehbarer Zeit geschafft zu haben, ist ein freundlicher Gedanke. Insbesondere die Herbergen werden mir nicht fehlen. Diese hier beispielsweise ist zwar wirklich nett, aber ungeheizt. Nachts ist es draußen - und somit auch bald im Inneren - recht frisch. Und wer weiß, wieviele Schnarcher heute hier übernachten.
Ich liege gerne - und bislang immer - im oberen Stock der Etagenbetten. Da bin ich wohl eine Ausnahme, die unteren Betten sind jedenfalls immer zuerst belegt. Unter mir richtet ein älterer Japaner seinen Schlafsack, der erste Schnarchkandidat. Insbesondere vermisse ich in diesen Herbergen die Privatsphäre.
Ich spiele mit dem Gedanken, morgen bis nach Ponferrada zu gehen, und mir dort ein Zimmer zu nehmen. Das wäre allerdings dann meine bislang weiteste Etappe, über 35 km. Ich packe meinen Rucksack jetzt schon weitestgehend fix und fertig, so dass ich morgen früh ganz zeitig los kann, ohne die anderen allzu sehr zu stören. Sonst schaffe ich diese Entfernung nicht. Während ich also krame, fällt mir auf, das trotz der Enge in diesem einzigen Schlafsaal alle hier völlig entspannt, friedlich und nett sind. Ein jeder lächelt jeden an und alle haben Ruhe und Zeit.
Ich spaziere durch das recht übersichtliche Dorf, besichtige eine sich im Zerfall befindliche Kapelle, gehe in eine kleine Kirche und wohne zufällig einer Vesper bei. Diese wird von zwei Benektinermönchen gehalten, der abwechselnde Sprachgesang, komplett in lateinischer Sprache, wirkt auf mich sehr weltfremd. Die beiden haben sehr schöne Stimmen! Die teils kompliziert anmutende Litanei hat etwas sehr Meditatives. Das Gebet währt etwa 40 Minuten, und meine Füße schmerzen sehr, stehen ist noch schlimmer als laufen! Aber ich kann die Kirche nicht verlassen, ohne die Andacht sehr zu stören, also reiße ich mich zusammen und warte das Ende ab.
Das anschließende Pilgermenu in einem Restaurant unterscheidet sich nicht wesentlich von den bisherigen. Allerdings sitze ich ganz alleine am Tisch, da die anderen bekannten Gesichter in der großen Herberge übernachten, wo ein Essen im Haus angeboten wird.
Noch vor 21:00 Uhr liege ich im Bett und lausche dem Gesang und Geigenspiel einer Gruppe von Studenten und Schülern im Innenhof des Refugiums. Die Klänge begleiten mich in den Schlaf.