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Tag 10
von Nájera nach Redecilla del Camino
Montag, 28. April 2008
 

Kurz vor 6:00 Uhr stehe ich auf und verlasse möglichst leise die Herberge. Ich hatte bereits am vorherigen Abend alles gepackt, so dass ich nur meinen Schlafsack greifen und die Türe öffnen muss. So wecke ich niemanden und anziehen kann ich mich ja auf der Straße vor dem Haus. Es ist ja noch dunkel und es sieht niemand - so die Grundidee. Ich habe jedoch die Rechnung ohne das feiernde Volk gemacht, das sich jetzt so nach und nach von der Bühne nach Hause begibt. Belustigt schauen einige Spanier mir zu, wie ich mich auf der Straße ankleide.

jw 10 02Ich lasse das Dorf hinter mir und wandere bei Dunkelheit über einen sacht ansteigenden Weg durch einen Wald. Die Stimmung, das Klima, die einsetzende Dämmerung... es ist wieder einmal wunderschön, sehr romantisch und ich denke unwillkürlich an das Märchen von Hänsel und Gretel. Nach bereits etwa 90 Minuten erreiche ich Azofra. Hier hat tatsächlich schon (oder immer noch?) eine Bar geöffnet und ich trinke meinen ersten, sehr starken, café con leche des heutigen Tages.

jw 10 04Gegen 11:30 Uhr erreiche ich über kraftraubende Feldwege Santo Domingo de la Calzada. Dieser Ort ist einer der prominentesten Ortschaften am Jakobsweg. Seinen Namen verdankt er Domingo de Viloria. Dieser Eremit rettete in der Überlieferung einem jungen Mann das Leben. Ein Richter, der dies nicht glauben wollte, erklärte, dass der Mann so tot sei, wie die Brathühnchen auf seinem Teller. Darauf erhoben sich diese Hühner und flogen von dannen. Seither werden, zur Erinnerung an dieses Wunder, in der Kathedrale des Ortes zwei Hühner in einem Käfig gehalten (und alle 21 Tage ausgetauscht).

jw 10 07Meine Füße schmerzen jetzt unerträglich, wie nie zuvor, und mit Tränen in den Augen suche ich etwa 30 Minuten lang, in denen ich sicher weniger als einen Kilometer weit laufe, eine Bar. Dort gönne ich mir erstmal einen weiteren café con leche und ein bocadillo. Eigentlich ist hier Selbstbedienung, aber ich sehe wohl so mitleiderregend aus, dass die Wirtin mir meine Bestellung an den Tisch bringt.

Ich ziehe Schuhe und Strümpfe aus und lege meine Füße auf einen anderen Stuhl. Das gehört sich zwar nicht, aber ich weiß mir vor Schmerzen nicht mehr zu helfen. Es stört sich allerdings niemand daran, ja kaum jemand nimmt überhaupt davon Notiz. Wahrscheinlich kommt das immer wieder mal vor. Erstaunlicherweise habe ich immer noch weder Blasen noch Druckstellen an meinen Füßen und ich kann mir nicht erklären, was mir solche Schmerzen bereitet.

In diesem Café durchlebe ich den physischen Tiefpunkt meiner Reise. Mit Tränen in den Augen schlürfe ich meinen Kaffee - und noch mehrere weitere, dabei überlege ich mir ernsthaft die Tour abzubrechen. Über zwei Stunden sitze ich so da, kämpfe mit mir selber und bin schon fast soweit aufzugeben, als sich das österreichische Ehepaar an meinen Nachbartisch setzt.

Sie kämpft mit Blasen an ihren Füßen und schimpft laut über die steinigen Feldwege. Das kann ich nur zu gut verstehen, sie sind wirklich eine Qual. Die beiden wollen jedoch noch einen oder zwei Orte weiter pilgern, setzen schon bald ihren Weg fort und ich beobachte wie die Frau leicht humpelnd durch die Türe auf die Straße geht.

Ich bleibe noch eine Weile wie in Trance sitzen und setze meinen inneren Kampf fort: weitergehen oder nach Hause fahren. Schließlich raffe ich mich auf und beschließe JETZT weiterzugehen, ziehe Strumpf und Schuh an, und verlasse entschlossen die Bar. Im Nachhinein betrachtet ist hier vermutlich die Entscheidung darüber gefallen, ob ich den Camino schaffen werde oder nicht und ohne die Begegnung mit der humpelnden, willensstarken Frau wäre meine Reise hier wohl zu Ende gewesen. Nachdem ich mich jedoch entschlossen habe, nicht aufzugeben, schaffe ich den Rest des Tages und alle nachfolgenden Etappen und Strapazen wesentlich leichter. Es ist offensichtlich auch eine Frage der mentalen Einstellung und jetzt habe ich beschlossen, es zu schaffen! Allerdings wird dieser Entschluss noch merhrfach auf die Probe gestellt werden.

jw 10 06Unterwegs überhole ich Sonja, eine Frau, die ich bereits vor zwei oder drei Tagen einmal sah. Sie kommt aus Australien. Ihr Freund hat den Camino letztes Jahr nach nur 10 Tagen in Burgos abgebrochen, sie möchte es gerne bis nach Santiago schaffen. Da sie etwas knapp in ihrer Zeitplanung ist, möchte sie heute noch einen Ort weiter kommen als ich. Wir gehen eine Weile gemeinsam, unterhalten uns, lachen und die Zeit verfliegt. Ich vergesse fast meine Füße - Schwatzen und Gesellschaft lenken doch ab - und wir kommen ganz gut voran. Da ich aber letztlich doch etwas schneller gehe als sie, trennen sich unsere Wege alsbald.

jw 10 08Etwas später treffe ich auf einen - wieder einmal unangenehmen - Deutschen. Er begrüßt mich plump vertraulich, erzählt mir wo die bisher besten Betten waren (was mir völlig egal ist, schließlich liegen die ja hinter uns) und wo sie in Zukunft sein werden - wir Deutsche müssen ja zusammen halten... bla bla bla, Rhabarber, Rhabarber... Aber er ist gut zu Fuß und schon bald entschwunden. Sicher ist er vor mir in Santiago und ich werde ihn daher nicht noch einmal treffen!

jw 10 12Kurz nach 15:00 Uhr erreiche ich mein heutiges Tagesziel Redecilla del Camino und befinde mich somit seit etwa 3 Kilometern in der Region Castilla y León. 32,5 km betrug die Länge der heutigen Etappe, größtenteils über die bereits erwähnten steinigen Feldwege. Die letzten 2 Kilometer sind immer die schlimmsten. jw 10 11Mit dem Ziel vor den Augen wird jeder Schritt doppelt qualvoll und jeder Versuch die Schmerzen beim Auftreten zu vermeiden, indem ich den Fuß bewusst aufsetze - mal mehr die Ferse belastend, mal das Gewicht zu den Zehen bringend - scheitert letztendlich. Wieder einmal völlig erschöpft und vor Schmerzen humpelnd, schleppe ich mich in die Herberge. Diese ist kostenlos, wird auf Spendenbasis betrieben, und die Herbergsmutter - welche auch die zugehörige, kleine Bar bewirtschaftet - zeigt sehr energisch auf die Spendendose. Später werde ich gerne etwas hineinwerfen, aber im Moment fehlt mir einfach die Kraft meinen Rucksack zu öffnen und das Portemonnaie herauszufischen.

Obwohl die Herberge kostenlos ist, gehört sie zu den Besten, in denen ich bislang übernachtet habe. Alles ist sauber, ganz frisch renoviert und die Duschen sind wirklich ausgezeichnet. Als das heiße Wasser meine Füße umspült, stockt mir vor Schmerz der Atem. Anschließend creme und massiere ich sie wie üblich mit Voltaren. Ich schiebe eine Decke unter meine Waden, so dass die Füße überstehen, also frei hängen - eine Wohltat. Mir ist kalt, also bedecke ich mich mit meinem Schlafsack und bleibe für etwa zwei Stunden so liegen, schreibe Tagebuch und döse vor mich hin.

Im Nachbarzimmer höre ich unter anderen auch das österreichische Ehepaar. Offensichtlich konnten sie ihr eigentliches Tagesziel doch nicht erreichen, vermutlich haben ihre Füße sie daran gehindert. Später kommt die Asiatin mit den massiven Fußproblemen in mein Zimmer. Sie ist sehr verschlossen, aber offensichtlich guter Dinge. Der Anblick ihrer Füße ist jedoch nichts für schwache Nerven. Auch der freundliche Italiener, der mir in Torres del Rio den Terrassenplatz verschaffte, gesellt sich dazu. Er begrüßt mich lautstark und freundlich und obwohl wir keine gemeinsame Sprache sprechen, unterhalten wir uns prächtig mit Gesten und haben viel Spaß. Was für ein Unterschied zu dem muffeligen Deutschen von vorhin!

Überhaupt sind mir zu viele Deutsche auf dem Jakobsweg. Sicher, es gibt auch zahlreiche nette Landsleute, aber die sind eher leise. Viele derjenigen, die mir so negativ auffallen - und das sind nicht wenige -, haben sich von Kerkelings Buch inspirieren lassen. Oft höre ich seinen Namen und sie sind hier, weil sie dann zu Hause berichten können: "Ich war auch da, ich habe es auch geschafft!" Das ist meiner bescheidenen Meinung nach wirklich die falsche Einstellung und schadet dem Camino sehr.

In der Tat stelle ich fest, dass in einigen Bars und Herbergen deutsche Pilger mittlerweile schon mal schief angeschaut werden. Es gibt sicher viele sehr unterschiedliche Gründe den Camino zu gehen, - ich selber halte mich ja auch für keinen Pilger im eigentlichen Sinne - aber weil Kerkeling hier war oder um mit der Leistung zu glänzen ist sicher der falsche Ansatz. Auch ich habe das Buch gelesen, fand es brilliant und sehr ehrlich, aber deshalb bin ich ganz bestimmt nicht hier. Ich freue mich darüber, hier Leute aus aller Welt zu treffen und mich mit ihnen auszutauschen. Das macht den Camino lebendig. Und liebgewonnene Angewohnheiten fallen zu lassen, über den eigenen Schatten zu springen und sich selber nicht so wichtig nehmen ist eine großartige Erfahrung. Es ist erstaunlich, wie wenig man hier braucht, um wirklich zufrieden zu sein.

jw 10 09Nach einem kurzen Nickerchen gehe ich in das einzige Restaurant auf der anderen Seite der einzigen Straße, die durch diesen Ort führt. Dort treffe ich das österreichische Paar - sie heißt Helga - und einen älteren, netten Deutschen namens Manfred. Es ist eine fröhliche, aber auch besinnliche Tischgesellschaft. Die Österreicher wollen Santiago in 30 Pilgertagen erreichen und dort ihren 30. Hochzeitstag feiern. Auf diese Weise wollen sie sich für 30 gute Ehejahre bedanken.

Die Gaststätte ist schmutzig, überall liegen die Schalen zahlloser Pistazienkerne auf dem Boden, dazu Papier und der Wirt macht keine Anstalten uns zu bedienen. Nachdem wir uns jetzt längere Zeit unterhalten haben, knurrt nun doch der Magen und wir fragen den Wirt, ob es nicht etwas zu essen und zu trinken gibt. Sofort strahlt er, legt eine saubere Papierdecke auf und wir bekommen ein einfaches Mahl. Auf einmal wird uns klar, warum er zunächst so unwirsch war. Am Nebentisch sitzen nämlich zwei ca. 50 jährige Damen. Sie haben ihre Speisen und sogar ihre Getränke, zwei Dosen Bier, selber mitgebracht und sitzen jetzt hier, ohne etwas zu bestellen, und essen zu Abend. Das finden alle am Tisch ungehörig, dafür gibt es einen Gemeinschaftsraum in der Herberge. Der Wirt dachte, wir würden zu denen gehören, da wir uns zunächst einmal nur unterhalten hatten. Im Anschluss an das allerdings recht mittelmässige Essen, gehen wir noch in die der Herberge zugehörigen Bar und gönnen uns ein Bier.

Zurück auf dem Zimmer sehe ich die Asiatin an ihren Füße herumdoktern. Offensichtlich hat sie aber außer etwas Pflaster nichts dabei, was ihre Schmerzen lindern könnte. Ich biete ihr etwas von meiner bisher zum Glück nicht von mir benötigten Heilsalbe an. Sie nimmt diese gerne entgegen und spricht das erste Mal einige Worte. Vom Camino erfuhr sie aus Büchern zweier koreanischer Schriftsteller, die diesen Weg unlängst gingen und wollte es ihnen gleichtun. Kerkeling auf koreanisch, aber sie ist ganz nett, lediglich trotz ihrer guten Englischkenntnisse sehr schweigsam.

Gegen 21:15 Uhr dämmert es bereits und viele der Pilger, darunter auch ich, legen sich zur Ruhe.

 
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